Mainz wird als Wohnort immer beliebter. Die Zahl der Einwohner nimmt kontinuierlich zu. Waren es 1995 noch 183.000, sind es heute etwa 215.000 Mainzer. Ein Anstieg von 15 Prozent in zwanzig Jahren. „Bis 2030 rechne ich mit deutlich mehr als 220.000 Mainzern“, sagt Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD). Aber: „Wenn wir die nächsten zehn Jahre so weiterwachsen, dann haben wir unsere Grenze erreicht! Und was dann? You are not welcome? Vorsicht Stadt! Überleg‘s dir, dreh um? Wir müssen nicht um jeden Preis wachsen“, formuliert er weiter. Doch wie kann das sein? Während woanders Wachstum begrüßt wird, hält man sich in Mainz bedeckt. Woran liegt das?
Rund um den Globus zieht es die Menschen vom Land in die Städte. Sie erfahren eine Renaissance als Lebens- und Kulturform. In Zukunft werden Städte noch vielfältiger, vernetzter, lebenswerter und in jeder Hinsicht „grüner“ sein. Vor allem aber wandelt sich das Verhältnis der Menschen zu ihren Städten. Besonders im Osten Deutschlands ist dieser Trend aktuell zu beobachten: Erfurt, Leipzig und Dresden sind am kommen, zu Lasten des ländlichen Raumes. Gleichermaßen wachsen die Großstadtregionen und Metropolen.
Das Rhein-Main-Gebiet mit seinem rheinhessischen Speckgürtel boomt. Mit 5,5 Mio. Einwohnern ist es Deutschlands fünftgrößter Metropolraum und eine der wirtschaftlich bedeutendsten europäischen Metropolregionen. Rhein Main wird mittlerweile in einem Atemzug mit London, Paris und Mailand genannt. Attraktive Arbeitsplätze, ein internationaler Knotenpunkt für Güter, Dienstleistungen, Finanz- und Informationsströme: Die Region profitiert von ihrer zentralen Lage im Herzen Europas. Nicht zuletzt weist sie eine hohe Lebensqualität auf. Urbane Räume, Kultur und Erholungsgebiete sind hier zu finden. Die Folge: Frankfurt und Darmstadt gehören zu den am schnellsten wachsenden Städten in Deutschland. Auch Mainz ist für viele eine attraktive Alternative.
Wachstumsschmerzen: Problem Fläche
Das klingt soweit gut und die steigenden Einwohnerzahlen stimmen freudig. Sie stellen Mainz aber auch vor große Herausforderungen. Die seit historischen Zeiten auf engem Raum eingegrenzte Stadt platzt aus allen Nähten. Das große Problem: Fläche! So gehört Mainz zu den (vierzig) einwohnerstärksten Städten Deutschlands – hat aber nur eine Fläche von 99 Quadratkilometern. Zum Vergleich: Wiesbaden hat doppelt soviel Fläche, mit 1.300 Einwohnern pro Quadratkilometer. In Mainz sind es gleich 2.100 Einwohner im Durchschnitt – ein Wert, den man sonst nur aus Hamburg und Köln kennt.
Vereinfacht gesagt: Mainz hat immer mehr Menschen auf wenig Raum, und das trotz der vielbeschworenen ländlichen Lage. Kein Wunder, dass die Grundstücks- und Wohnungspreise in die Höhe schnellen. So wird vor allem das Thema Wohnraum zum zentralen Handlungsfeld der Politik. Die Stadt setzt sich verstärkt für eine Ausweitung des Wohnungsangebotes ein. Ziel ist es, bis zum Jahr 2020 mindestens 6.500 neue Wohneinheiten zu errichten, davon viele im erschwinglichen Bereich. Die Baugenehmigungen sind auf einem Rekordhoch. Aber die Bautätigkeit hält mit dem Wachstum nicht Schritt.
Im Regionalverband Rhein-Main fehlen bis zum Jahr 2030 sogar 184.000 Wohnungen für einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt. Verzweifelt wird also weiter nach neuen Bauflächen Ausschau gehalten. OB Ebling: „Um den rasanten Anstieg der Mieten zu bremsen, muss Wohnraum erhalten und geschaffen werden. Wir überprüfen in jedem Neubaugebiet, ob öffentlich geförderter Wohnraum sichergestellt werden kann. Angesichts des sehr angespannten Wohnungsmarktes streben wir jetzt den höchsten Anteil von 25 Prozent an“, fasst er die Position der Stadt zusammen. Denn die sogenannte Mietpreisbremse greift oft nicht. Geförderter Wohnraum ist also nicht mehr nur etwas für Arbeitslose & Co.; auch Geringverdienende haben ein Recht darauf und sollten sich am Bürgeramt informieren. Wohngeld ist keine Schande, sondern ein bewusst gesetztes Instrument der Stadtpolitik, das zu wenig nachgefragt wird.
Private verdienen, Stadt bezahlt
Schaut man sich Luftaufnahmen von Mainz an, fallen einem als Erstes die vielen Äcker rund um die Stadt auf. Die Landwirtschaft rund um Mainz wird gebraucht, die offenen Felder dienen auch als Frischluftschneise für die Kessellage der Innenstadt. Und doch: Mainz fehlt die Luft zum Atmen. Nicht nur, was die Diesel-Diskussion und Fluglärm angeht. Grünflächen sind und werden weiter Mangelware, im Gegensatz zu Wiesbaden, das auch die schöneren Wohnungen zu günstigeren Preisen anbietet. Alles wird immer enger und dichter.
Derzeit wird bebaut, was geht, sei es das Heiligkreuz-Areal Richtung Weisenau (ehemaliges IBM Gelände), die Hechtsheimer Höhe oder alte Kasernen. Fast alles sogenannte Konversionsflächen, also die Wiedereingliederung von Brachen oder Nutzungsänderungen von Gebäuden. Jungfräuliches Bauland gibt es kaum noch. Die Stadt selbst hat dabei nur wenige eigene Flächen. Das meiste Land ist in privater Hand und geht über Investoren, die Phantasiepreise für ehemalige Äcker und Gärten aufrufen. Drastisch hat die Entwicklung mal der Geschäftsführer einer Wohnungsgesellschaft ausgedrückt: „Reiche kann man stapeln, Arme muss man flachlegen.“ Er meinte das ironisch, nicht zynisch.
„Reiche kann man stapeln, Arme muss man flachlegen.“
Massiven Veräußerungsgewinnen im Bauland- und Immobilienbereich stehen notwendige Infrastruktur- Maßnahmen gegenüber, die zum Großteil Stadt und Land finanzieren. Eine finanzielle Schieflage tritt ein. „Auf der einen Seite wird privatisiert, auf der anderen Seite sozialisiert“, fasst das der ehemalige Sozialdezernent Kurt Merkator zusammen und fordert daher beinahe eine Bodenreform. Denn das kommunale Defizit wächst weiter. Städte und Gemeinden in Rheinland- Pfalz stöhnen trotz wirtschaftlichen Booms unter einer hohen Ausgabenlast und profitieren kaum von der guten Wirtschaftslage. Um finanziell über die Runden zu kommen, nehmen sie weiter Kredite auf.
Unter den bundesweiten Top Ten der Kommunen mit den höchsten Kassenkrediten finden sich sechs aus Rheinland-Pfalz, hat jüngst eine Bertelsmann-Studie veröffentlicht. In den vergangenen zehn Jahre häuften die Kommunen in Rheinland-Pfalz ein Defizit von mehr als drei Milliarden Euro an, eine Milliarde davon allein die Stadt Mainz. Damit gehört Rheinland-Pfalz zusammen mit Schleswig- Holstein und dem Saarland zu den drei Bundesländern, „denen selbst in sehr guten wirtschaftlichen Zeiten keine Stabilisierung gelingt“, kritisieren die Autoren der Studie. Und das, obwohl Geld da ist. Es wird nur nicht richtig verteilt
Umland- und soziale Wanderung
Denn auch das ist eine Wahrheit des Wachstums: Mainz hat zwar soweit gute wirtschaftliche Kennzahlen und Arbeitsmarktdaten. Doch Besserverdienende und gut gestellte Familien ziehen irgendwann zumeist ins direkte Umland. Dadurch gehen der Stadt nicht nur Einnahmen verloren. „Es kann nicht sein, dass die, die mäßig Kohle haben, in der Stadt und die Reichen im Umland leben“ bringt es Dr. Stephan Kerbeck vom Amt für Stadtentwicklung auf den Punkt. „Da muss etwas passieren, von der Verteilung her“, räumt auch OB Ebling ein und fordert „faire Deals mit dem Umland, weil wir hier so enge Grenzen haben.“ Er bringt mehr Planungsrecht für die Stadt ins Spiel, sogar bis hin zu einer möglichen Gebietsreform. Denn: Abgesehen von zu wenig Platz, legt die Stadt momentan pro Einwohner drauf.
Der Landkreis Mainz-Bingen und andere halten sich in der Frage naturgemäß zurück. Es stimme zwar, dass sich Bevölkerungsschichten, die über ein mittleres bis hohes Einkommen verfügen, mit ihren Bauvorhaben gerne im näheren Umland niederlassen. Jedoch lasse dieses Bestreben deutlich nach, je weiter man sich von Mainz entfernt: „Schon in Guntersblum oder Bacharach sind solche Tendenzen kaum mehr zu verzeichnen. Tendenziell ist es eher so, dass aus den noch ländlich geprägten Regionen eine Landflucht einsetzt“, sagt Pressesprecher Kilian Grau und stellt klar: „Die umliegenden Gemeinden sind langfristig nicht in der Lage, durch Großwohnungsbau die Wohnungsnot der Stadt Mainz zu mindern“.
Von neuen Grenzziehungen oder Einmischung in Planungsrecht wollen die Gemeinden erst recht nichts wissen. Sie pochen auf ihre gesetzlich festgeschriebene Eigenständigkeit und wehren sich gegen jede Art der Vereinnahmung. Realistischer ist da eine Neuregelung des kommunalen Finanzausgleichs, der zwischen reichen und ärmeren Gemeinden einen Ausgleich schafft. Derzeit lässt die Landesregierung das Gesetz prüfen.
„Wenn alle Hilfebedürftigen nur noch zu uns kämen, dann würde es schwierig werden“ stellt Ebling jedenfalls klar. „Wir dürfen Stadt aber nicht nur unter Rentabilitäts-Punkten sehen. Wir sind ja kein Unternehmen. Die Frage, wer mehr Geld bringt, sollte nicht unsere Aufgabe sein.“ Dennoch wird klar: Die Mischung macht’s. Soziale und finanzielle Interessen spielen eine symbiotische Rolle. Gerade für eine kleine Stadt wie Mainz, die, wenn sie so weiter wächst wie sie wächst, in Zukunft mehr auf das Umland angewiesen sein wird.
Kultur, Kitas, Schulen
Zugunsten einer ausgewogenen sozialen Mischung könnte man sich also auch freuen über Reichen-Ghettos wie den Zollhafen oder die neue Hartenberg-Siedlung. Wenn die Wohn- und Mietkosten woanders erschwinglich bleiben würden – auch für die kreative Szene und junge Leute, die den Boom der letzten Jahre mitgetragen haben. Es gibt für sie kaum noch geeignete Flächen für Kultur. Reihenweise machen derzeit Locations dicht: Panama Bar, Gebaeude27, Planke Nord, 50Grad … Der Politik macht das inzwischen Sorgen. Es heißt zwar, neue Räume müssen immer wieder erobert werden. Aber wie, wenn immer mehr nachverdichtet wird? Und das nicht nur im Wohnungsbau. Um den Bahnhof herum werden und wurden drei neue Hotels errichtet, weitere sind in Planung. Der Tourismus wird angekurbelt. Auch neue Bürohäuser wachsen an neuralgischen Punkten der Stadt. Die Bautätigkeit kündet von hohem Anlagedruck.
„Die Infrastruktur hinkt der Stadtentwicklung hinterher.“
Und ein weiteres Wachstums- Symptom: Es braucht neue Schulen und Kitas. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung steigen auch die Schülerzahlen bis zum Jahr 2030 stärker als bislang angenommen. Denn auch die Zahl der Geburten ist gestiegen. Und: Es gab eine deutlich höhere Zuwanderung als erwartet. Die Stadt Mainz benötigt allein 17 neue Kitas plus Personal. Dazu kommen zwei neue weiterführende Schulen. Die muss es geben bis 2022/23, ansonsten stehen die Schüler vor der Tür, sagt der ehemalige Sozialdezernent Kurt Merkator und fügt hinzu: „Wir müssen mindestens 15 Schulen sanieren und umbauen. Die Infrastruktur hinkt der Stadtentwicklung hinterher.“
Insgesamt 220 Mio. Euro sind allein für Schulbauten veranschlagt. Im Kita-Ausbau sind fast 2.000 neue Betreuungsplätze bis 2021 erforderlich. Wo sollen die herkommen und wie die Erzieher sich wiederum mit dem geringen Lohn vor Ort eine Wohnung leisten? Hinzu kommt: Mit den Einwohnern wächst auch die Verwaltung. Immer mehr Menschen müssen versorgt werden. Wer in letzter Zeit einmal im Bürgeramt war, kann ein Lied davon singen. Auch das Ordnungsamt wird aufgestockt.
Wachstum muss koordiniert werden
Natürlich ist Zuwachs besser als Schrumpfung. Und die Tatsache, dass sich das Wachstum großräumig und nicht innerhalb enger Grenzen vollzieht, lässt froh stimmende Rückschlüsse vor allem auf die wirtschaftliche Attraktivität der Region zu. Aber: Wachstum ist nicht bedingungslos positiv. Ohne vernünftige Steuerung wird es schnell einfach nur „Wuchern“. Die Fragen des Wandels zwingen viele Akteure zu einem abgestimmten Handeln. Man kann auch – wie es die rheinland-pfälzische Landesregierung bei der Schiersteiner Brücke bewiesen hat – aus schierem Unvermögen oder ideologischer Verbohrtheit bei zentralen Themen wie Pendlerströmen größeres Unheil anrichten.
Und die Pendlerzahlen nehmen zu, während auch hier die Infrastruktur hinterher hinkt. Das ÖPNV-Angebot muss angepasst werden. Noch gibt es in Mainz auch 100.000 PKW. Die Stadt will weniger. Mobilität soll in Zukunft besser integriert werden: mehr Ladestationen, mehr Fahrradsysteme. Die Stadtwerke befassen sich derzeit mit dem Thema Carsharing und positionieren sich mehr und mehr als Infrastruktur-Unternehmen. Das ist die Zukunft.
Beim Thema Wachstum ist vieles mit vielem vernetzt. Man / Stadt muss integriert denken. Die ÖDP fordert die Stadtplanung daher auf, noch stärker alle Kriterien des städtischen Zusammenlebens zu beachten. Insbesondere den Erhalt gewachsener Stadtteile, Sozialstrukturen, des Stadtklimas, der Anpassung an die Folgen des Klimawandels, und dem Schutz der Umwelt. Der „Masterplan Kommune“ darf nicht zum Gewäsch verkommen. Auch hier ploppen sofort Fragen auf: Wie können wir in Zukunft nicht nur Stickstoff, sondern auch CO2 reduzieren?
Vieles davon ist noch nicht in den Köpfen der Entscheider angekommen. Denn nicht wenige Akteure vertreten Einzelinteressen, ohne das große Ganze im Sinn zu haben. Das betrifft nicht nur das Umland. Auch hier sind Quantensprünge zu leisten. Mainz muss den Rahmen größer ziehen, sonst wird man sich in Wachstumsfragen bald gegenseitig blockieren. Dabei gibt es längst positive Beispiele, etwa der Planungsverband Hannover, ein Zusammenschluss mehrerer Gemeinden zum Zweck eines gemeinschaftlichen Wohnraum und Gewerbeflächenkonzept. Diese Diskussion wird auch in Mainz nicht mehr lange auf sich warten lassen.
von Florian Barz und David Gutsche, Fotos: Katharina Dubno