Am Nachmittag steht Friedrich Gajdoss noch unter dem Eindruck der vergangenen Tage. Auf einem Traditionssegler, auf dem für rund 50 Personen Platz ist und der von der Größe her nicht mehr viel mit einer Yacht zu tun hat, war er unterwegs von Cherbourg in der Normandie bis nach Amsterdam. Mehrmals im Jahr zieht es den früheren Lufthansa-Kapitän auf das Segelschiff „Roald Amundsen“, dessen Heimathafen in Eckernförde liegt. Unterhalten wird das Schiff vom Verein „Leben lernen auf Segelschiffen“, der regelmäßige Segeltörns anbietet, an denen auch Anfänger teilnehmen können. „Bevor es losgeht, bekommt jeder eine Einweisung. Auf dem Traditionssegler geht alles per Hand, fünf bis sechs Personen werden etwa einem Tau zugewiesen“, erklärt Gajdoss. Besonders schön sei es zu sehen, wie die Crew-Mitglieder, die aus diversen Regionen stammen, unterschiedliche Berufe haben und aus verschiedenen Altersgruppen sind, schon nach kurzer Zeit aufeinander abgestimmt und mit Freude das Schiff in die europäischen Häfen steuern.
Gemeinsames Ankommen
Es ist dieser Gedanke einer funktionierenden Gemeinschaft, den sich Friedrich Gajdoss und Ingrid Baur auch im Kontext ihres privaten Wohnumfelds wünschten und mit dem Konzept „statt- Villa e.V.“ nun auch gefunden haben. Das Ehepaar wohnte zuvor in Odernheim am Glan in einem Haus auf einem großen Grundstück. Für beide war klar, dass sie sich im Alter verkleinern wollten, ohne auf Lebensqualität verzichten zu müssen. In Mainz haben sie nun den passenden Ort dafür gefunden. „Wir möchten auch andere ermutigen, sich über das Wohnen im Alter Gedanken zu machen, bevor es andere tun“, so Gajdoss. Seit Oktober 2022 ist das Paar im Mehrgenerationen- Wohnprojekt im Quartier „Am Hartenbergpark“ zuhause. Vermieter ist die Wohnbau Mainz, die für das Projekt 36 Wohnungen zur Verfügung stellt. Im Oktober vergangenen Jahres sind über 60 neue Mieter zeitgleich in die „stattVilla“ eingezogen. Die neuen Nachbarn und Mitglieder des Projekts kannten sich zu diesem Zeitpunkt bereits: Vorausgegangen waren Kennenlernrunden, die sich über mehrere Monate zogen. Gemeinsames Wandern, Picknicken und viele Einzeltreffen lagen da schon hinter den neuen Mietern. Jung und Alt, Singles, Familien, verschiedene Nationalitäten – der Verein legt Wert auf Diversität.
Gute Aussicht
„Es war schon ein besonderer Tag, als alle im Oktober ihre Umzugskartons durch die Stockwerke getragen haben“, so Ingrid Baur, die mit ihrem Mann eine der Wohnungen in der obersten Etage bewohnt. Die penthouse-artige Wohnung offenbart an sonnigen Tagen einen herrlichen Panoramablick und garantiert viel Licht im Wohn- und Essbereich. Einige Highlights der Einrichtung stechen heraus: Im Arbeits- und Kunstzimmer von Ingrid Baur ist es etwa das Vertiko, in das Behältnisse, die an umgedrehte Mensch-ärgere- Dich-nicht-Figuren erinnern, eingefasst sind. „Es handelt sich um liegengebliebene Elektro-Isolatoren, die wir während eines Spaziergangs am Wegesrand entlang der Draisinen-Strecke in Odernheim fanden. Ein befreundeter Möbelschreiner hat sie in die Tischplatte eingefräst“, erklärt Ingrid Baur. Im Wohnzimmer steht ein weiteres besonderes Möbelstück: eine Vitrine, deren Front aus einem alten Sprossenfenster besteht. Ein Erinnerungsstück, das Ingrid Baur und Friedrich Gajdoss aus ihrem alten Haus in Odernheim mit nach Mainz gebracht haben. „Das Fenster ließen wir uns samt Rahmen ausbauen, den Schrank haben wir dann gemeinsam dahinter gebaut“, sagt Friedrich Gajdoss.
Vom Land in die City
Mit durchweg positiven Emotionen denkt das Ehepaar an ihre Odernheimer Zeit zurück, wo sie über viele Jahre hinweg in einer Idylle lebten. Auf dem rund 2.300 Quadratmeter großen Grundstück stand ein aus Sandstein gebautes Haus aus den zwanziger Jahren mit mehreren Wohnungen und viel Grün drumherum – gleich vor dem am Hang gelegenen Haus floss der Glan entlang. Eine Oase, ein Ruhepol, den Ingrid Baur noch heute als „großes Glück“ bezeichnet. Seit ihrer Kindheit leidet die heute 71-Jährige an einer Herzerkrankung. Erst durch die Herzlungenmaschine, die Ende der sechziger Jahre nach Deutschland kam und eine OP ermöglichte, öffnete sich für Ingrid Baur eine neue Welt: „Davor war nicht viel möglich. Als Kind wurde ich jeden Morgen von den Lehrern von zuhause abgeholt, in das Klassenzimmer gesetzt und nachmittags wieder gebracht. Selbst wenige Schritte waren eine enorme Belastung.“ Nach der OP, mit 18 Jahren, habe sie „das Leben spüren wollen“, ging nach Berlin, war im Anschluss in der Reisebranche tätig und genoss die Möglichkeiten, die das neue Leben ihr boten. Eine Folge der Erkrankung, so Baur, sei von frühauf die Fähigkeit ge wesen, sich permanent selbst zu beschäftigen, ohne dass Langeweile aufkommen konnte. Dass sie irgendwann einmal in einem Projekt wie „stattVilla“ leben könnte, habe sie sich kaum vorstellen können, bis sie es kennen lernte. Dies zeigte sich nicht zuletzt während Corona. Friedrich Gajdoss befand sich auf einem Segeltörn in Portugal, als sich seine Frau infizierte. Die Gemeinschaft habe sofort reagiert und für sie gesorgt.
Gemeinsames Wohnzimmer
Im Laufe der Monate ist eine motivierte Wohngemeinschaft entstanden. Verabredungen, wie etwa zum gemeinsamen Spargelessen, werden über die Chatgruppe via Smartphone getroffen. Reparaturarbeiten können in der gemeinsamen Werkstatt erledigt werden. „Noch sind wir in der Phase, in der wir uns richtig kennenlernen. Es macht bislang alles einen sehr guten Eindruck“, sagt Frank Häußler, ein weiterer Bewohner des Projekts, der einen Einblick in die gemeinschaftlich genutzte Wohnung bietet. Die als „gemeinsames Wohnzimmer“ genutzte Wohnung wird anteilig von allen Mietern finanziert. Wer wie viel zahlt, bestimmt sich nach dem vom Verein festgelegten Bietermodell. Mehrere Wohnungen im Haus werden darüber hinaus sozial gefördert. „Solch eine Gemeinschaft ist Gold wert“, sagt Wohnbau-Chef Thomas Will. In einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt zu leben, bedeute zwangsläufig, dass es auch einmal zu Reibereien kommen kann, aber auch hierfür sei die Gruppe durch ihre Organisation gut aufgestellt, um Lösungen zu finden. „Wir haben über die Jahre viel Erfahrungen mit solchen Projekten sammeln können. Ganz unterschiedliche Konzepte wurden in Mainz erprobt und eins kann man sagen: Alle sind heute noch im Bestand.“
Text Alexander Weiß Fotos Marla Dähne