von David Gutsche und Katharina Dubno (Fotos):
Die Gesellschaft zwingt ihren Kindern ihre Vorstellungen auf. Wie ein Hohlraum, der gefüllt werden muss. Niemand schert sich dabei um die wirkliche Bestimmung. Wenn man sich dessen bewusst wird, ist es meistens schon zu spät, einen neuen Weg einzuschlagen, sagt der indische Lehrer OSHO. Etwa so wie der Fernsehmoderator Tobias Schlegl, der vor Kurzem seinen ZDF-Job aus Sinnlosigkeit an den Nagel gehängt hat, um Notfallsanitäter zu werden; für ein Medizinstudium war es dann doch schon zu spät …
Irgendwie so dachten sich das auch Pia Damm (23) und Tobi Rosswog (25). Die beiden wohnen seit letztem September in Mainz, oben auf dem Lerchenberg im „Liebermenschhaus“. Der Name ist abgeleitet von ihrem Straßennamen Liebermannstraße und kein Zufall; irgendwie lieb und menschlich will man sein, aber gleichzeitig auch möglichst radikal.
Geldfrei unterwegs
Der Hannoveraner Tobi ist Anfang zwanzig, als seine Zweifel an Studium und der allgemeinen Lebenssituation ihn in neue Bahnen lenken. Abitur, Studium, beruflicher Erfolg, ein immerwährendes Streben nach oben – soll so das Leben sein? Nach langen Überlegungen entscheidet er sich 2013, nicht nur das Studium, sondern all seine Zelte abzubrechen und ohne Karriere und Geld weiterzumachen. Er informiert seine Eltern und sein Umfeld über die Entscheidung, verschenkt all sein Geld und widmet sich den Themen Wegwerfgesellschaft, eine Gesellschaft frei von Geld und radikale Nachhaltigkeit.
Er geht an Universitäten, hält Vorträge und informiert darüber, dass beispielsweise jeder Supermarkt tagtäglich im Durchschnitt 45 kg Lebensmittel entsorgt. Durch einen Zufall lernt er dabei Pia kennen. Die Rheingauerin ist zu diesem Zeitpunkt für ein Food-Sharing-Projekt tätig. „Der Vortrag von Tobi gefiel mir nicht nur thematisch,“ sagt sie, „auch menschlich“, und lacht. Pia bricht ebenfalls ihr Studium ab, beide reisen nach Marseille, leben für einige Zeit komplett geldfrei. Nun soll alles auf ein neues Level gehoben werden.
Gelebte Utopie?
Mit neuen Ideen und Visionen befruchten beide nun Mainz: „Wir wollten irgendwo ankommen, Pia und Tobi träumen vom geldfreien Leben … eine Gemeinschaft gründen. Hier haben wir die meisten Kontakte; Menschen, die unsere Einstellung zum Leben teilen.“ Mit sechs weiteren Bewohnern im Alter von 18 bis 34 Jahren leben sie beschaulich auf ihrem Domizil am Lerchenberg. Das Haus wirkt wie eine kleine Kommune: vegan und drogenfrei, kein Alkohol, kein Kiffen. Stattdessen lieber meditieren, tanzen, diskutieren und politisch aktiv werden. Ihre konkrete Vision, das Manifest, befindet sich seit einiger Zeit zusammengefasst auf dem Netzwerk www.livingutopia.org.
Sie stützt sich im Wesentlichen auf vier Pfeiler: Geldfrei, vegan, ökologisch und solidarisch. Die Seite hat einige tausend Fans und Unterstützer. Den ökologischen Aspekt ihrer Arbeit können die meisten noch gut nachvollziehen. Auch Solidarität ist für viele ein Begriff. Vegan ist mittlerweile auch keine Herausforderung mehr. Bei der Idee des geldfreien Lebens allerdings gibt es Widersprüchlichkeiten. Dessen sind sich auch Pia und Tobi bewusst. Die beiden zahlen ihre anteilige Warmmiete solidarisch aus Spenden von Unterstützern, der Wasserfilter kostete um die 800 Euro und im Keller summt ein Kühlschrank, Tobis größtes Ärgernis, denn der Solar-Kühlschrank im Garten funktioniert noch nicht: „Aber auch wenn mir von Unis oder Konferenzen Geld angeboten wird, nehme ich das mittlerweile als Spende für das Haus an“, erklärt Tobi.
Bewusstseinswechsel
Geldfrei leben ist derzeit (noch) für die meisten eine Utopie, vor allem, wenn es um einen festen Wohnort geht. Aber warum soll man nicht träumen? Denn es geht den Bewohnern auch und vor allem um einen Bewusstseinswechsel. Die Broterwerbsarbeit soll nicht mehr im Vordergrund stehen und das komplette Leben bestimmen, sondern vielmehr die persönliche Bestimmung und Entfaltung von Talenten und Gaben; der Gedanke: Was würde ich tun, wenn Geld keine Rolle spielt, bringt es Tobi auf den Punkt. Daher werden auch bewusst Begriffe gemieden, die mit traditioneller Beschäftigung in Beziehung stehen: So wird aus dem Coworking-Space im ersten Stock ein Cowupping-Space, das gemeinsame Saubermachen heißt fröhlich „Putzparty“ und im Gemeinschaftsschrank werden Kleidungsstücke geteilt, aber es gibt auch eigene Schränke, die wesentlich kleiner sind.
Mit ihrem Streben, die Welt ein wenig besser zu machen, nehmen sie auch vor Ort Kontakt mit Supermärkten auf und schaffen Lebensmittelkooperationen. „Wir sensibilisieren, was mit unseren Lebensmitteln passiert und fragen die Leute: „Wollt ihr das? Oder möchtet ihr nicht lieber mithelfen, dass eure Produkte noch verwendet werden können?“ Durch die Kooperationen mit den Märkten ist man selbst gut eingedeckt mit eigenen Lebensmitteln. Im Keller stapeln sich die Säcke in der „Mampfkammer“. Fast wie ein kleiner Bioladen sieht es hier aus. Dosen, Amaranth, Mehl, auch frisches Gemüse und Obst sind darunter. Unglaublich, wie viel heutzutage weggeworfen wird. Kokosraspeln sind im Haus sehr beliebt, fast überall kommen die dazu. Getränke, Smoothies, Tee … Hunger gelitten wird hier nicht, eher ist zu viel da.
Neben der Mampfkammer liegt der geräumige Schlaf-, Theater- und Kino-Saal. Hier übernachten Gäste oder man kuschelt sich zum Filmegucken ein. Der Versuch bedingungslosen Teilens. Und noch mehr soll passieren. „Wir würden gerne etwas Größeres gründen und suchen nach Immobilien und Grundstücken. Etwas mit 100 Menschen“, stellt sich Tobi vor. Ist Mainz bereit dafür? Ist die Welt (wieder) offen? Oder sind das die Träumereien der Jugend, die an der Lebensrealität zerschellen? Hoffentlich können sie ihren Idealen treu bleiben und die Gesellschaft ein wenig mit ihren Ideen infizieren…