Die Tage sind kurz und die Nächte lang und kalt. Für Menschen ohne festen Wohnsitz wird dieser Winter nicht nur eisige Temperaturen, sondern auch das Coronavirus zur Gefahr. Durch die Pandemie hat sich ihre Situation schon seit dem Frühjahr verschlechtert – auch in Mainz gibt es immer weniger Rückzugsmöglichkeiten. Die Schlafplätze in Wohnheimen sind oft belegt, Beratungs- und Hilfsangebote wurden reduziert, Teestuben und andere Stätten für Tagesaufenthalte sind wegen Kontakt- und Hygienevorschriften nur eingeschränkt nutzbar. Viele Wohnsitzlose sind deshalb rund um die Uhr zum Leben auf der Straße verdammt.
Fehlende Konzepte
Der Mainzer Sozialmediziner und Hochschulprofessor Dr. Gerhard Trabert ist in Sorge: „Die meisten Obdachlosen gehören aufgrund chronischer und multipler Erkrankungen zur Risikogruppe und sind dem Infektionsgeschehen schutzlos ausgesetzt“. Niemand habe im Frühjahr daran gedacht und immer noch gebe es auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene kein wirkliches Konzept zum Umgang mit Obdachlosen in Zeiten von Corona. Der engagierte Arzt behandelt seit 25 Jahren Obdachlose, Geflüchtete und andere Notleidende. Mit dem von ihm gegründeten Verein „Armut und Gesundheit“ setzt er sich für ihre medizinische und soziale Versorgung ein. Die Angebote des Vereins wurden die letzten Monate, so gut es ging, aufrechterhalten. Allerdings seien sie wegen der Infektionsgefahr zurzeit auf weniger Schultern verteilt als sonst, so Trabert. In Mainz gibt es etwa 200 bis 300 Wohnungslose, schätzt er. 50 bis 70 davon leben dauerhaft auf der Straße. Die meisten kennt und betreut Trabert seit Jahren.
Unterwegs mit dem Arztmobil
Wir treffen Dr. Trabert am Thaddäusheim in Weisenau, einem Wohnheim der Caritas für Männer ohne eigene Bleibe. Hier parkt sein Arztmobil, mit dem er seine Patienten versorgt und sich täglich auf den Weg in die Innenstadt und Umgebung macht. Erste Station der rollenden Arztpraxis ist heute eine Kirche in der Neustadt. In einer geschützten Ecke des überdachten Vorhofs haben Wohnungslose ihr Matratzenlager aufgeschlagen – ein klein wenig geduldete „Privatsphäre“. Anderswo werden sie häufig verjagt. Eine andere Gruppe sitzt am Hintereingang der Kirche und wärmt sich in den letzten Sonnenstrahlen. Bei allen schaut der „Doc“, wie sie ihn nennen, kurz nach dem rechten und fragt, ob jemand Hilfe benötigt. Günni, ein großer schlanker Mann um die 40, hat Beschwerden und folgt zur Untersuchung ins Arztmobil. „Es ist schwer, wieder Fuß zu fassen. Es ist jetzt auch hart wegen dem Virus“, sagt die einzige Frau in der Runde. Viele sind sich der zusätzlichen Gefahr eher vage bewusst. Essenziell ist zuerst einmal die Sorge um Essen und Schlafen. Auf der Straße geht es um Grundbedürfnisse. Das bestätigen auch Erik und Alex. Sie haben sich auf einem Gehweg platziert. Erik hatte schon einen Schlaganfall und kann deshalb schlecht laufen. Die Teestu- be der Pfarrer-Landvogt-Stiftung sei für ihn zu weit weg. Sie hält sanitäre Anlagen vor, frische Kleidung und tägliche Mahlzeiten für Obdachlose. Dennoch sitzt Erik mit Alex lieber in der Nähe des Neustädter Supermarktes, um von Passanten Spenden zu erbitten. Seinen Schlafsack habe man ihm gestohlen, erzählt er. Also bringt Dr. Trabert ihm einen neuen, inklusive Isomatte. Dann stattet er beide noch mit einem Mund-Nasenschutz aus und ermahnt Erik, besser auf seinen Schlafsack aufzupassen. Im Wohncontainer für Obdachlose seien ab Dezember wieder Schlafplätze frei. Die beiden hoffen, dass sie dort dann nachts unterkommen können. Bis dahin schlagen sie ihr Nachtlager wie gewohnt in einer Tiefgarage auf oder über einem wärmenden Lüftungsschacht.
Teilerfolge und Hoffnungsschimmer
Dr. Trabert hat erreicht, dass die Kosten für nicht Krankenversicherte unter seinen Patienten von der Stadt übernommen werden – ein Teilerfolg. Ansonsten geht es nur zögerlich voran. Es fehlen vor allem isolierte Unterkünfte, um Patienten mit Infektionen oder dem Verdacht auf Corona zu separieren. Das sei wegen der Ansteckungsgefahr weder in Wohnheimen noch innerhalb der Container möglich. Doch es tut sich auch was: Ende Oktober trafen sich Mainzer Hilfsverbände und Vereine mit Vertretern der Stadt zum ersten Mal zu einem Runden Tisch zum Thema Obdachlosigkeit, um die Lage einzuordnen und Hilfsangebote zu koordinieren. Dieser Runde Tisch soll nun etabliert werden, so die Stadt. Außerdem suche man aktuell zusammen mit dem Verein „Armut und Gesundheit“ nach einer Unterkunft für Risikopatienten unter den Mainzer Obdachlosen. Laut Dr. Trabert geht es um 25 Einzelplätze, die womöglich auch in den Räumen der Housing Area, einer ehemaligen Flüchtlingsunterkunft in Gonsenheim, eingerichtet werden könnten. Immerhin sieben Wohncontainer mit Schlafplätzen für 21 wohnungslose Männer und Frauen stellt die Stadt von Dezember bis mindestens Ende März wieder am Fort Hauptstein zur Verfügung. Neben den bereits vorhandenen 87 Plätzen in bestehenden Wohnheimen sei außerdem eine ganzjährig verfügbare Übernachtungseinrichtung sowie eine gesonderte Unterkunft für obdachlose Menschen mit psychischer Beeinträchtigung im Gespräch. Ein Hoffnungsschimmer, auch wenn konkrete Konzepte und Immobilien bisher fehlen. Dr. Trabert hätte sich gewünscht, dass man sich zumindest schon früher zusammengesetzt hätte: „Jetzt ist es ein wenig spät“, gibt er zu bedenken. Denn einige seiner Patienten werden der Kälte und dem Virus weiterhin auf der Straße trotzen müssen.
Text Tina Jackmuth Fotos Gerd Waliszewski