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Reportage: Das Mainzer Drogenhilfezentrum Café Balance – Wider die Selbstzerstörung

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von Bernd Fabritius, Fotos: Katharina Dubno

Zwischen Jux und Ernst liegen nur Sekundenbruchteile, wenn ein Mensch im Rausch die Kontrolle verliert. Eben noch stellt uns Sozialarbeiter Matthias Koll einen Kollegen vor, der zum Dienstantritt die von Neonlicht grell beleuchtete Küche betritt. Dann passiert es.
Praktikantin Katrin eilt herbei. „Eine Klientin ist voll drauf, sie rennt nackt im Gang herum, bitte hilf mir“, ruft sie. Augenblicklich wendet Koll sich um und verschwindet im Hausflur. An der fahlen Wand neben der Küchentür zeigt ein Bildschirm die Treppe zum Zugangstor des eingezäunten Grundstücks. Neben der Sprechanlage ein schuhkartongroßer, orangefarbener Drogennotfallkoffer, der zum Einsatz kommt, wenn auf der Treppe zum Tor jemand überdosiert. Oft schon sei dies passiert, selbst Drogentote habe es rund um das Café Balance gegeben, auch wenn nur wenig darüber berichtet worden sei. So ist an diesem eiskalten Montag des Öfteren aus dem Café-Umfeld zu hören. Und auch, dass einige Behörden wohl meinten, diese Thematik passe nicht zu Mainz. Nach einer Stunde steht Koll wieder in der Küche neben dem Kollegen: „Klaus war mein Mentor, als ich damals als Drogenberater anfing. Er arbeitet schon ewig im Café“, sagt Koll und fügt grinsend hinzu: „Ich bin hier immer noch der Jungspund.“ Der Kollege pufft ihn feixend in die Rippen: „Naja, mittlerweile bist du aber auch schon welk.“

Kommunen nehmen Problematik wahr
Seit 1993 betreibt die Stadt das Drogenhilfezentrum Café Balance in der Augustusstraße, zwischen Uniklinik und Hauptbahnhof. Drei Voll- und zwei Teilzeitkräfte betreuen hier volljährige Konsumenten illegaler Rauschmittel. Matthias Koll ist seit 2000 angestellt. Der gebürtige Osnabrücker sitzt in seinem kleinen Büro. Er ist schlank und hat rasierte, angegraute Haare. In Jeans, grauem T-Shirt und Kapuzenpullover wirkt er trotz seiner 40 Jahre jugendlich. „Bereits vor dem Studium war ich in Jugendorganisationen sozial aktiv und wusste: Das ist mein Ding“, erzählt er, während er im Bürostuhl mit Kaffeetasse in der Hand das Café-Konzept erklärt. Die Einrichtung praktiziert in der niedrigschwelligen Drogenhilfe ein Konzept der so genannten akzeptanzorientierten Betreuung. Soll heißen: Niemand wird aufgrund seiner Sucht diskriminiert. Besucher des Cafés werden mit ihren Problemen ernst genommen. Diese Herangehensweise entstand Ende der 80er Jahre. Landesweit nahmen damals viele Kommunen die Drogenproblematik wahr und richteten Drogencafés ein, um Krankheiten wie Aids und Hepatitis einzudämmen – und um obdachlose Konsumenten von den Straßen und aus dem Stadtbild zu entfernen.

Am Rande des Ruins
Auf der Straße lebte damals auch Jan Nowak (Name von der Redaktion geändert). Der 44-Jährige sitzt heute wie fast jeden Tag an einem Rundtisch in der hinteren Ecke des Cafés. Sonnenstrahlen beleuchten diesen Teil des Raums. Jan trägt eine schwarze Lederjacke, um den Hals ein ausgebleichtes Bikertuch. Seine graue Wintermütze ist tief in die Stirn gezogen. Er liest ein religiöses Buch und trinkt Kaffee aus einer Henkeltasse. Jan ist Ex-Konsument. „Das Café Balance ist für mich und andere Drogensüchtige so etwas wie Familienersatz“, sagt er ernst. Seine Augen suchen Blickkontakt. „Klienten werden hier nicht beschimpft oder niedergemacht, sondern erfahren Zuwendung und Verständnis.“ Seit sieben Jahren nimmt Jan an einem kommunalen Entzugsprogramm teil. „In dieser Zeit bin ich nicht rückfällig geworden“, sagt er. Heute hält er bewusst Abstand zu aktiven Konsumenten, um nicht in alte Verhaltensmuster zurückzufallen. Alle vier Wochen trifft er sich mit einer Suchtberaterin im Café und spricht über seine Situation. Die Gespräche sind eine Auflage des Gesundheitsamts, doch Jan macht sie gerne. Zu groß ist die Angst vor einem Rückfall. Die Drogensucht brachte ihn einst an den Rand des Ruins – Obdachlosigkeit, Betteln, Stehlen, Knast: Jan Nowak hat diesbezüglich nichts ausgelassen. Seine Story beginnt vor mehr als 20 Jahren. Anfang der 90er Jahre landete der junge Berliner mit polnischen Wurzeln nach einer Reise in Frankfurt. Als Schnorrer lebte er von der Hand in den Mund. Nachts schlief er nicht, sondern feierte in Clubs und Bars. Wenn er sich ausruhte, legte er sich auf Parkbänke. An seinen ersten Drogenkontakt erinnert er sich noch genau – und kann sogar schmunzeln: „Ein Kumpel vom Bahnhof sagte, ich solle auch mal ‚eine Nase nehmen’. Ich verstand zuerst gar nicht, was er meinte. Ich hatte doch eine Nase.“ Die Heroin-Sucht stellte sich schnell ein. Wenn Jan keinen Stoff konsumierte, hatte er Kälte- und Schüttelanfälle. Zehn Jahre dauerte diese Lebensphase. „Man stumpft ab“, meint er rückblickend. Nach einem Gefängnisaufenthalt wegen Diebstahls landete Jan durch eine Frauenbekanntschaft in Mainz. Die Beziehung zerbrach an Problemen rund um beidseitigen Tablettenmissbrauch. Statt erneut abzurutschen, holte Jan sich Hilfe. Die Caritas vermittelte ihm eine Sozialwohnung in Finthen und im Café Balance fand er Zuflucht, einen sozialen Ort der Geborgenheit.

Gratiskaffee, Spritzentausch und Notbetten
Matthias Koll sitzt in seinem Zimmer im vom Aufenthaltsbereich abgetrennten Bürotrakt. „Wir Sozialarbeiter arbeiten immer zu zweit, und die meiste Hilfearbeit passiert nicht in den Beratungsräumen, sondern im Küchenbereich am Tresen“, erklärt er seinen Arbeitsalltag. Ein Freiwilligendienstler und ein Praktikant unterstützen die Berater. Koll und seine Kollegen helfen auch bei der Vermittlung von Ärzten, Therapeuten, Anwälten und füllen mit den Klienten bürokratische Anträge aus. Auch Schuldnerberatung findet statt. Um stets den Überblick zu behalten, suchen Café-Mitarbeiter zuweilen auch jene Orte in Mainz auf, an denen sich die „Szene“ gerade aufhält. Das Café-Angebot umfasst auch einen Kicker und eine Waschmaschine. In so genannten Notschlafzimmern stehen neun Betten bereit, die Besucher maximal vier Wochen am Stück nutzen dürfen – vorausgesetzt sie haben einen Ausweis und sind versichert. „Die Anspruchshaltung, was die Übernachtungsmöglichkeit angeht, muss manchmal gebremst werden“, sagt Koll. Beim Anknipsen des Lichts auf den Toiletten erscheint nur mattes Schwarzlicht. „Damit Konsumenten ihre Venen nicht finden.“ Der Konsum von Drogen ist auf dem Café- Grundstück verboten – genauso wie der Besitz von Waffen. Wer erwischt wird, riskiert Hausverbot. Im gesamten Aufenthaltsbereich riecht es stark nach Zigarettenqualm. Montags intensiver als sonst, weil nach Wochenenden regelmäßig viel Betrieb ist. An fast jedem der zehn Tische sitzen Menschen. Einige unterhalten sich, manche essen über einen Teller gebeugt, andere kauern berauscht auf ihrem Stuhl. Ein etwa 30-jähriger Mann mit grauen Anorak holt sich von einer Mitarbeitern eine frische Spritze mit Abbinde durch das Schiebefach am Tresen. Es ist Nachmittag im Café Balance. Jan Nowak steht am Küchentresen. Neben den sozialen Kontakten mit Angestellten und befreundeten Café-Besuchern schätzt er das bescheidene Angebot an täglichen Mahlzeiten und Getränken: „Das günstige Essen ist toll, etwa Würstchen mit Brot. Und Kaffee ist umsonst.“ Ein weiterer Service: Neben dem Spritzentausch gegen einen geringen Centbetrag können sich Konsumenten ihre Post an die Café-Anschrift schicken lassen. Jan Nowak muss los. „Zur Caritas“, sagt er. Es geht um seine Wohnung. „Mir wurde gekündigt. Im Februar muss ich die Bleibe verlassen, in der ich sieben Jahre gelebt habe. Ich hoffe, die Caritas kann mir helfen, eine neue zu finden.“ Und falls nicht? „Ich vertraue meinem festen Glauben“, sagt Jan und lächelt. Falls er keine Wohnung finden sollte, auf der Straße wird er nicht landen. Eher im Café Balance, seinem zweiten Wohnzimmer. Dort wird ihm niemand kündigen.