von David Gutsche, Fotos: Jana Kay
„Zu uns kommen Kinder quer durch alle Nationalitäten und Schichten“, sagt Martina Rose, Leiterin vom Kinderheim Juvente in Mainz, „wir haben den Prof. Dr. hier und Kinder von Elite Schulen. Manchmal ist man überrascht, wer da plötzlich vor einem sitzt.“
Der Landesbericht 2013 „Hilfen zur Erziehung“ vom Familienministerium bescheinigt ebenfalls: Immer mehr junge Menschen und Familien sind auf Hilfen zur Erziehung angewiesen. Und der Anteil der Fälle steigt, in denen es um eine akute „Kindeswohlgefährdung“ geht. Kinder- und Jugendhilfe ist somit in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Längst richten sich die Angebote nicht mehr nur an bestimmte Randgruppen, sondern an alle Familien. Dieser Artikel konzentriert sich jedoch vor allem auf die „Heimkinder“: 65.000 Kinder und Jugendliche lebten im vergangenen Jahr in Deutschland in einem Heim, einer betreuten Wohnung oder Wohngemeinschaft, berichtet das Statistische Bundesamt. Das sind elf Prozent mehr als noch vor drei Jahren. Der häufigste Grund, warum sie nicht mehr zu Hause leben (können): Die Behörden sehen das Kindeswohl gefährdet. Bei Kindswohlgefährdung geht es im Kern um die „erhebliche seelische oder körperliche Gefährdung eines Kindes oder Jugendlichen“, sei es durch Vernachlässigung oder durch schädliches Verhalten der Sorgeberechtigten. Besonders brisant ist das Thema bei Verfahren, in denen das Sorgerecht strittig ist, zum Beispiel nach Scheidungen. Die Ursachen für den Anstieg der Zahlen liegen zum einen in einer größeren Aufmerksamkeit in der Bevölkerung für Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung, die dann den Jugendämtern gemeldet werden. Zum anderen gibt es einen Zusammenhang zwischen Armut und prekären Lebensverhältnissen. Auch eine tendenzielle Überforderung von Eltern ist spürbar.
Heime im Wandel
Martina Rose (Dipl.-Sozialarbeiterin) ist Leiterin der Stiftung Juvente, einer der großen, freien Jugendhilfeträger in Mainz und Umgebung. Sie trägt braunes halblanges Jahr und macht einen sympathischen und mitfühlenden Eindruck. Die Kinder liegen ihr am Herzen. Sie und ihr Mann kümmern sich selbst um zwei Pflegekinder. Ihr Arbeitsplatz, das Kinderhaus in der Oberstadt, ist eine ambulante Stelle. Das heißt, wenn Kinder aus Familien hierher gebracht werden, bleiben sie in der Regel nur kurz, also bis zu drei Monate. Danach hat Juvente entweder eine Lösung gemeinsam mit den Eltern gefunden oder die Kinder werden „weiterverteilt“ in andere Wohngruppen und Häuser. Das Prozedere heutzutage geschieht im kleinen familiären Rahmen, möglichst immer in Kooperation mit der Familie. Neben Juvente existieren noch weitere Träger, in Rheinland-Pfalz sind es 17 Fachdienste an 21 Standorten. Zu Frau Rose und ihrem jungen Team kommen Kinder aus akuten Krisen (z. B. Alkoholmissbrauch, Psychosen, Gewalt), aber auch Kinder, die sich selbst gemeldet haben, oder deren Eltern „nicht mehr können“ – meistens Härtefälle. Da schreitet zur Not schon mal die Polizei ein und holt die Kinder aus der Familie. „Das ist immer sehr hart, manchmal hängen blau geschlagene Kinder am Rockzipfel ihrer Mutter und wollen nicht weg“, berichtet Rose. So bestätigt es auch das Jugendamt: Im Stadthaus am Bahnhof sitzen die zuständigen Mitarbeiter. Ihre „Tipps“ erhalten sie von den Kindern selbst oder Eltern, aber auch von Schulen, Ärzten, Polizei und Nachbarn. Ihr Job gilt als verrufen, vieles hat sich jedoch im Gegensatz zu früher gebessert. Nicht immer werden die Kinder sofort aus den Familien „rausgeholt“. Es existieren auch viele „niedrigschwellige“ Angebote wie Erziehungshilfe, Trainings, sozialpädagogische Familienhilfen im Alltag oder Kinder-Tagesgruppen.
Erste Instanz Jugendamt
Herr Wilhelm ist Teamleiter beim Jugendamt. Er wirkt ein wenig kantig, so als müsste er des Öfteren auch schonmal hart durchgreifen. An seiner Seite sitzt Hiltrud Göbel, Sachgebietsleiterin für soziale Dienste: „Die Situationen sind diffizil und erfordern Fingerspitzengefühl. Wenn wir Hinweise bekommen, besuchen wir die Familien und schauen uns vor Ort um. Dann beraten wir uns im Team. Wie können wir reagieren? Der Kernbestand dreht sich um die Kindswohlgefährdung. Die ist zwar definiert, aber da spielt auch viel gesunder Menschenverstand eine Rolle.“ Wilhelm ergänzt: „Wenn wir das Kindswohl gefährdet sehen, gehen wir in die Wohnung, notfalls mit Polizei.“ Dann wird miteinander geredet und die Eltern müssen der „Inobhutnahme“ ihres Kindes zustimmen. „Wenn sie das nicht wollen, müssen wir uns notfalls mit dem Gericht abstimmen.“ Danach führt der Weg in der Regel zum Amtsarzt, um mögliche Verletzungen festzustellen. Wenige Zeit später kommen die Kinder auch schon zu Juvente oder anderen Trägern. „Die Inobhutnahme ist die schärfste Waffe des Jugendamts“, weiß Sozialdezernent Kurt Merkator. „Als Behörde steht man da schnell in der Kritik.“ Entweder heiße es, das Jugendamt reiße die Kinder aus der Familie. Passiert aber etwas Schlimmes wie der Tod des zweijährigen Kevin in Bremen in der Wohnung seines drogenabhängigen Vaters, heißt es: Warum hat das Jugendamt nicht eingegriffen?
Sensible Kinderseelen
Zurück im Kinderhaus von Juvente: Hier gibt es 15 Plätze, die zumeist überbelegt sind. Das Geld ist knapp und das sieht man den Zimmern an. Gerade wird renoviert. An den letzten ungeweißten Wänden finden sich gekrakelte Sprüche wie „Fick dich, Arschloch“, aber auch härtere Kaliber. Es geht nicht zimperlich zu, doch gerade das dürfen und sollen die Kinder lernen: „Es ist ok, seine Aggressionen, Wut und Schmerz auszudrücken, nach dem, was die Kinder zu Hause erlebt haben“, sagt Frau Rose, „wir haben hier sogar Aggressionsspielzeug. Tatsächlich sind viele Kinder erst einmal aggressiv. Wut und Trauer verbergen sich aber oft unter den Aggressionen.“ Solche und andere „Problemkinder“ haben nicht selten ein Leben lang das Gefühl, zurückgewiesen und nicht erwünscht zu sein. Ihr Vertrauen in die Welt ist kaputt, in ein Leben von Bindung und Sorglosigkeit. Viele beschleicht noch später ein Gefühl der Ohnmacht und Wirkungslosigkeit. „Das Fundament ist löchrig“, beschreibt es Rose. Deswegen gibt es bei Juvente „Interventionsangebote“ wie Körper- und Klangübungen, Gruppenstunden und kreative Tätigkeiten. So lernen die Kinder auch Grenzen zu setzen und der Frage nachzugehen: Wo sitzen meine Gefühle? Wichtig ist, sich Ziele zu setzen und zu versuchen, aus der Opferhaltung herauszukommen, einen freien Willen zu entwickeln: „Das Kind kommt mit Herzrhythmusstörungen und wir sind der Beta Blocker“, nennt es Frau Rose. „Jetzt geht es darum, den Kindern erst mal Sicherheit zu geben und einen geregelten Tagesablauf. Aber es gibt nicht nur Regeln. Genauso wichtig ist es, dass die Kinder sich warm und behütet fühlen. Denn was die teilweise erlebt haben ist heftigst. Manch Erwachsener würde unter geringeren Belastungen zusammenbrechen. Wir dürfen nicht zuviel erwarten.“
Annas Erfahrungen im „Heim“
Anna S. aus Mainz (31 Jahre) hat die Situation selbst durchgemacht. Sie war ein Selbstmeldekind. Mit 17 Jahren ging sie zur Caritas, weil es zu Hause einfach nicht mehr ging. Dazu kamen Drogenprobleme. Nach einem Einzelgespräch wurde Anna eine Reha in einer Kinder & Jugendpsychiatrie verordnet. Während der Therapie wurden die Ursachen des Drogenmissbrauchs klarer und familiäre Strukturen und Probleme dahinter aufgedeckt. Anna stimmte schließlich zu, aus ihrem alten Umfeld wegzuziehen, in eine Jugend-WG in einer anderen Stadt. Auf vier Etagen leben dort neun Jugendliche mit Betreuern. Die meisten litten unter Bulimie, Selbstmordgedanken und sonstigen Psychosen. Alle gingen auf eine normale Schule, doch ihr eigentliches Zuhause war das Wohnprojekt. Der Umzug tat Anna gut: Sie lernte schnell, sich wieder Ziele zu setzen, holte ihr Abitur nach, arbeitete nebenbei in der Gastronomie und studiert heute erfolgreich Medizin. So kann es auch gehen – je nach Härtefall. „Es ist schön, später Kinder wieder zu sehen, die Familien gründen und ein geregeltes Leben führen“, sagt Frau Rose. Aber man darf sich nichts vormachen. Es gibt Fälle, wo nicht mehr viel zu retten ist. Heutzutage haben die psychischen Probleme in Familien zugenommen und die sind oft schwieriger einzuschätzen als physische Gewalt. In die Gesamtproblematik mit rein spielt auch die Vereinsamung des „modernen Menschen“: ein Weniger an Gemeinschaft, ein Job nur noch vor der Maschine (Computer), anstatt sich mit Menschen auszutauschen und in Kontakt zu gehen. „Die sozialen Kompetenzen gehen verloren“, bringt es Frau Rose auf den Punkt. Und auch die Belastungen am Arbeitsplatz haben zugenommen: Schichtdienste und Zeitarbeit bilden keine zuverlässige Grundlage für die Bedürfnisse von Kindern. Aber auch das Nicht-Arbeiten, die Arbeitslosigkeit, macht Familien kaputt, bis hin zum Stillstand. So haben sich auf der einen Seite viele Dinge verbessert, aber neue Probleme kommen hinzu. Ob wir imstande sind, diese zu lösen, bleibt fraglich in einer Welt, in der Arbeit, Geld und Wohlstand manchmal mehr zählen als Liebe, Familie und Akzeptanz.