von Benjamin Schaefer und Katharina Dubno (Fotos):
Eine scheinbar ganz normale Szene, wie sie sich täglich abspielt: David Rücklinger holt seinen Sohn Jesaja von der Schule ab. Der 30-Jährige geht dafür zehn Minuten zu Fuß und wartet einige Minuten auf dem Schulhof. Sein sechsjähriger Sohn verlässt das Gebäude und beide gehen nach Hause. Vater David trägt den Ranzen des Jungen, der unterwegs über Parkbänke und Hausvorplätze turnt: „Wenn Jesaja morgen weg wäre, würde es mich nicht belasten“, sagt David Rücklinger kurz darauf mit nüchterner Stimme. Er hat keinerlei emotionale Bindung zu seinem Sohn. Denn der kräftige Mann mit dem schweizerisch-österreichischen Akzent und der gepflegten Ausdrucksweise ist Asperger-Autist.
Logik als letzter Ausweg
Durch den Hollywood-Film „Rain Man“ wurde Autismus berühmt. Der Hauptcharakter, gespielt von Dustin Hofmann, hatte eine Inselbegabung im Bereich Zählen und Logik. Solch eine aufsehenerregende Spezialfähigkeit ist jedoch nicht die Regel. Damit die Diagnose Autismus gestellt wird, müssen Auffälligkeiten in mindestens drei Bereichen gegeben sein: im sozialen Umgang, in der Kommunikation und in Verhaltensweisen, die sich starr wiederholen und als „stereotyp“ bezeichnet werden. Außerdem müssen die Auffälligkeiten bereits vor dem dritten Lebensjahr aufgetreten sein. Neben dem Asperger-Autismus gibt es noch zwei weitere Varianten: frühkindlicher sowie atypischer Autismus. Während Menschen mit Asperger durchaus alleine durchs Leben kommen können, sind insbesondere Personen mit frühkindlichem Autismus schwer eingeschränkt in Sprache und Sozialverhalten. Sie brauchen oft intensive Betreuung.
Autist mit Familie
Keine Art von Autismus ist heilbar, keine eindeutig geklärt. Man findet jedoch in der Forschung ver verstärkt Hinweise auf genetische und hirnorganische Faktoren als Auslöser. „Asperger-Autisten sind tödlich ehrlich“, erzählt David Rücklinger. Oft werden sie als „Nerds“ bezeichnet, die sich mit immer gleichen Themen beschäftigen und sozial anecken. Die Figur Sheldon etwa, ein Physiker aus der US-Serie „Big Bang Theory“, gilt Rücklinger zufolge als gelungene Darstellung eines „Aspergers“.
Nun ist Rücklinger jedoch kein zurückgezogener Wissenschaftler, sondern lebt seit acht Jahren mit seiner Verlobten und drei Kindern zusammen, von denen zwei aus der ersten Ehe seiner Lebensgefährtin stammen. Seine Diagnose stellte das „Team Autismus“ aus Mainz-Weisenau, dessen konzeptionelle Leiterin die Psychologin Dr. Anne Häußler ist. 180 Klienten aus Mainz und Umgebung werden von ihrem Team betreut, 40 davon im Stadtgebiet. Die Therapiestellen sind förmlich „überrannt“, erzählt die Ärztin.
Im Fall von David Rücklinger erinnert sie sich an einen Test, bei dem David sein Gefühl beim Anschauen eines Gesichts benennen sollte. Er visierte die Augenpartie an und sagte: „Die Augen sind unsymmetrisch, die rechte Augenbraue ist weiter hochgezogen als die linke – das könnte eine physische Anomalie sein. Dann ist es darunter hell. Es könnte sein, dass die Figur schwitzt oder Körperfett hat.“ Alles in allem setzte er schließlich ein Ergebnis zusammen: „Die Person weint.“
Wo „normale“ Menschen schnell Gefühle sehen können, sieht ein Asperger- Autist überwiegend zusammenhanglose Sinneseindrücke. Diese setzt er dann primär verstandesmäßig zusammen. „Die meisten Ergebnisse bei Herrn Rücklinger stimmten am Ende“, stellt Dr. Häußler fest. Solche antrainierten Fähigkeiten nennen die Fachleute „Kompensation“. Viele Betroffene sind darin so gut, dass die dahinter stehenden Probleme fast gänzlich überspielt werden können. Als Schüler war David also zufrieden mit seiner Position als besserwisserischer Außenseiter, der nie zu lernen brauchte, um Einsen zu schreiben, der aber bei Klassenarbeiten scheiterte, weil eine Uhr an der Wand tickte.
Diagnose durch Bollywood
Lange Zeit war David Rücklinger seine Störung nicht bewusst, es war eben so. Erst als er bereits Familie hatte und einen Bollywood- Film schaute, in dem ein Asperger-Charakter dargestellt wurde, erkannte er Ähnlichkeiten. Die Diagnose wurde ihm im Alter von 26 Jahren gestellt. Bis dahin arbeitete er in der Gastronomie, wo er immer wieder aufgrund seiner direkten und unflexiblen Art aneckte. David blieb demnach nie lange bei einer Arbeitsstelle. Sein Leben ist somit selten berechenbar, obschon er Veränderungen nicht mag. So berichtet er von einem Regentag, an dem sein Sohn ins Wohnzimmer kam und vor sich hin sagte: „Es regnet.“ Das machte ihn wütend. Denn in seiner Wahrnehmung konnte er selbst sehen, dass es regnet. Erst die Therapie eröffnete ihm, dass das Kind beiläufig ein Gespräch zu beginnen versuchte. So sind es meistens die kleinen Dinge des alltäglichen Zusammenseins, die die Familie gemeinsam bewältigen muss.
„Was für ein Macho!“
Beim Therapieansatz von „Team Autismus“ wird demnach gerne die ganze Familie eingebunden, denn alle sind schlussendlich „betroffen“. In Davids Fall gab es selbst Sitzungen mit den Kindern, bei denen sie Fragen stellen konnten, ohne Angst vor den Reaktionen des (Stief-)Vaters. So lautete die Lektion für Davids Sohn: „Wenn er mit mir reden will, dann soll er das so zum Ausdruck bringen“, sagt Rücklinger. Andererseits musste er wiederum lernen, dass Kinder andere Bedürfnisse haben, die sie oft nicht klar äußern, weil sie ihnen selber nicht bewusst sind.
Rücklingers Verlobte Silvia Römer hat ihm ein Modell gegeben, das die Bedürfnisse von Menschen veranschaulicht: angefangen bei Essen und Kleidung bis hin zu Zuwendung. Bei Unsicherheit kann er diese Interpretationshilfe Stück für Stück durchgehen und die wahrscheinlichste Möglichkeit herausfinden. Mitunter „zermürbend“ nennt seine Gefährtin den Prozess des Kennenlernens und der gegenseitigen Missverständnisse. Über Online-Rollenspiele haben sie sich gefunden. Erst nach seinem Einzug hat sie die Schrulligkeiten ihres Partners wahrgenommen. Etwa, wie er mit Kopfhörern vor dem Computer im Wohnzimmer saß, während sich die Familie vergnügte. Der Bildschirm stand oft zwischen den Parteien. „Ich dachte nur: Was für ein Macho!“, erinnert sich die 34-Jährige. Liebenswert findet sie dagegen seine unkonventionelle Art und sein schier unerschöpfliches Wissen. Und seine Bereitschaft, an seinem Verhalten zu arbeiten.
Unterwegs als Selbstständiger
Heute versucht David Rücklinger, sich als Selbständiger zu etablieren. Er betreibt einen YouTube-Kanal, hält Vorträge über Asperger; sogar die englische BBC habe sich für eine Fernsehproduktion angemeldet. Seine Lieblingsthemen kommen wie ein Wasserfall über seine Lippen: historisches Fechten, nordische Mythologie, Geschichte und natürlich: Autismus.
Doch bald schon wird es keine „Asperger“ mehr geben: Mit der Reform des internationalen Diagnosekatalogs ICD soll ab 2018 nur noch die generelle „Autismus-Spektrum-Störung“ diagnostiziert werden. Einigen Studien aus den USA zufolge könnten bis zu 40 Prozent der heutigen Autisten aus dieser neuen Diagnose herausfallen, sagt Dr. Häußler. Das bedeutet unter Umständen größere Verunsicherung bei den Ärzten als auch bei den Betroffenen. Wer gilt dann für „noch normal“ oder „schon autistisch“? Die Diagnose Asperger-Autismus ist eine Nische für besondere Menschen, durch die wir „ein breiteres Verständnis vom Menschsein erlangen“ können, formuliert es Dr. Häußler. Es bleibt zu hoffen, dass solche Menschen ihre Nische weiterhin finden.
Vortragsreihe „Autismus und Familie“ von David Rücklinger (Eintritt 15 Euro)
19.12. um 20 Uhr: Autismus und Pubertät Meine Zeit als Heranwachsender mit Autismus
16.1. um 20 Uhr: Partnerschaft und Autismus (mit Silvia Römer) Die etwas andere Beziehung
15.2. um 20 Uhr: Autismus und Elternsein Vaterpflichten und Familienleben
Anmeldung unter foerderung@team-autismus.de oder telefonisch unter 06131-6179566
Team Autismus, Wilhelm-Theodor-Römheld-Str. 34, Mainz-Weisenau