Annett Gröschner, die neue Mainzer Stadtschreiberin, lässt sich gern treiben und erkundet die Stadt mit wachem Blick und offenen Ohren. Bekannt für ihr umfangreiches Werk zwischen Sachbuch und Belletristik, erzählt sie Geschichten von „kleinen Leuten“ und überlagerten Lebenswegen. Auch in Mainz will sie ihre Methode fortsetzen – mit literarischen Spaziergängen, Schülerprojekten und einer filmischen Reise durch die Provinz.
Überrascht war Annett Gröschner schon, als sie zur neuen Mainzer Stadtschreiberin ernannt wurde, denn bewerben kann man sich ja nicht. Aber da sie gern unterwegs ist, hat sie sich auch gefreut. Ein-, zweimal war sie schon zu Lesungen hier, vor langer Zeit. Ihr erster Eindruck nach wenigen Tagen: nicht zu klein, nicht zu groß – so wie ihre Geburtsstadt Magdeburg. Einen schönen großen Fluss gibt es auch. Aber Mainz ist deutlich geselliger! Magdeburg bleibt für die inzwischen bekennende Berlinerin immer wieder Thema, auch in ihrem gerade erschienenen dritten Roman „Schwebende Lasten“, für den sie übrigens Mainz häufig verlassen muss, denn viele Schriftsteller leben weniger vom Schreiben (also den Tantiemen) als vom Lesen – sprich von Lesereisen quer durch die Republik. Schön, dass einer der ersten Auftritte gleich bei „Erlesenes und Büchergilde“ stattfinden konnte.
„Erst drei Romane“
… war irgendwo zu lesen, verkennend, dass die Autorin ungeheuer fleißig ist. Denn sie lässt sich nicht auf Schubladen ein. Annett Gröschners Werk ist ebenso umfangreich wie komplex – wenn auch in Mainzer Bibliotheken leider kaum zu finden. Abgesehen von Theaterarbeiten, Gedichten und zahlreichen Essays und Zeitschriftenartikeln sind es vor allem Bücher, die zwischen Sachbuch und Belletristik changieren oder besser: beides vereinen. Bestes Beispiel: „Ein Koffer aus Eselshaut“, die Geschichte des Schriftstellers Franz Jung, montiert aus Erzählungen seines Sohnes Peter, Briefen, Kommentaren der Autorin und eigenen Impressionen ihrer Reise zu den Fluchtorten der Protagonisten (Budapest, New York, Wien usw.). Migration als literarisches Genre. Das Prinzip Collage findet sich immer wieder: „Ich sehe mich als Chronistin und Künstlerin zugleich, die das Textmaterial aus einem ursprünglichen Zusammenhang herauslöst, verdichtet und in die Gegenwart transportiert.“ Was dann aus offiziellen Aktennotizen, Tagebüchern, Briefen, Transskripten von Gesprächen, Zeitungsmeldungen und vielem anderen entsteht, ist ein durchaus subjektives Bild von Zeitgeschichte. Denn Annett Gröschner beobachtet auch sehr genau, ist „Spezialistin für Details“, hört zu, lässt die Menschen erzählen. Ihr Fokus liegt dabei immer auf den „kleinen Leuten“, also der Geschichte von unten. Naheliegend, dass ihr Personal in „Walpurgistag“ aus verarmten Rentnerinnen, dem Sohn einer trinkenden Künstlerin, einem Obdachlosen und manch anderen „lumpenproletarischen Gestalten“ rund um den Alex in Berlin besteht. Deren Lebenswege kreuzen sich, verheddern sich, fließen zusammen und wieder auseinander. Prinzip Palimpsest: Geschichten überlagern sich, werden überschrieben, sind Schichten der Geschichte. Man muss sie nur ausgraben – in teilnehmender Beobachtung.
Provinz Mainz?
Das erste AKW der DDR, eine durch die Mauer unterbrochene Straße in Berlin, überhaupt die Mauer („der antifaschistische Schutzwall“), Berliner Bürgerstuben, historische Spaziergänge in Berlin, Kriegserlebnisse aus dem Prenzlauer Berg, das waren bisher ihre literarischen Themen, sehr fokussiert auf die „Hauptstadt“. Und was hat sie in Mainz vor? Außer ein paar festen Zielen will Annett Gröschner sich vor allem treiben lassen, wie eine Flaneurin, als die sie sich sieht. Ein Fahrrad wurde gekauft, Rhein und Main sollen erwandert werden, im Sommer zusammen mit der Schwester. Und die Autorin liebt den Blick aus ihrer temporären Bleibe auf den Markt, mit Kissen auf der Fensterbank, auch wenn es nur das Taubenpaar auf seinen Flug- und Trippelwegen ist, denen sie folgt. Feste Schreibpläne verwirft man in fremder Umgebung ja doch bald, sagt sie. Eine Idee allerdings will sie verfolgen: Schülerinnen aus den Innenstadt-Gymnasien sprachen sie nach der Antrittslesung an, und mit ihnen würde sie gern die Stadt erkunden – aus deren Blickwinkel. Und für den Film, den sie für 3sat/ZDF machen soll, hat sie auch schon eine Idee: Zusammen mit den beiden Kombattantinnen Peggy Mädler und Wenke Seemann aus „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“, einem Transkript von tagelangen launigen Gesprächen, will sie etwas Lokales machen, vielleicht eine Filmreise in die Provinz: Mainz.
Text: Minas
Fotos: Stephan Dinges