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Der Mönch vom Berge

Medi1Seite
Jörg Jaegers will mit Meditation und Therapie den Menschen helfen.

Zehntes Stockwerk, Dachterrasse, große Bahnhofs- Kreuzung: Erhebend ist das Gefühl hier über den Dächern von Mainz gleich im doppelten Sinne. Denn Jörg Jaegers meditiert nicht nur im eigens ausgebauten Loft, seine Meditationen sollen den Menschen gleichsam über sich selbst erheben: „Meditation bedeutet, zur Erkenntnis zu kommen dessen, was wirklich ist. Die Menschen müssen begreifen, dass sie die Ruhe erst durch den Gang durch die Unruhe finden. Eine Unruhe, die sie aber erst entdecken, wenn sie still werden.“
Der 55-jährige Therapeut und Meditationslehrer leitete 15 Jahre lang eine Praxis in Wiesbaden-Biebrich. Seit 2013 betreibt er das „Zentrum für Wandlung“ in Mainz. Jaegers ist groß gewachsen, eine mönchische Tonsur umrahmt seinen Schädel. Wenn er spricht, dann klar und ernsthaft, aber auch mit Begeisterung für seine Sache.

Besser spät als nie

Ein wenig Zeit ließ sich Jörg Jaegers auf seinem Weg zur Meditation – zur „inneren Einkehr“ wie er es nennt. Nach einem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Amerikanistik in Mainz reizte ihn das reine Geldverdienen noch etwas stärker und er absolvierte eine Ausbildung im Marketing-Bereich, die ihn zur Siemens AG führte. Hier erfand Jaegers Werbeslogans und Texte für die unterschiedlichsten Produkte. Doch schon bald realisierte er, dass diese „äußere Welt“ nicht mit seiner inneren in Einklang zu bringen war: „Werbung hat etwas Vordergründiges. Ich habe mich daraufhin für eine innere Karriere entschieden.“

Bereits vor der Kündigung bei Siemens – schon während seines Studiums – unternahm er Selbsterfahrungs- Seminare und therapeutische Behandlungen. Nach dem Job beginnt Jaegers eine Ausbildung zum Heilpraktiker und meditiert währenddessen: „Viele Menschen benutzen Meditation als Kompensation. Man lernt Dinge auszuhalten, vorbei ziehen zu lassen, einzig und allein den Geist zu beobachten. Das ist wunderbar, kann aber in der Isolation halten.“ So lernte er die Bedeutung der Gefühle und Gedanken für die spirituelle Entwicklung kennen und fährt fortan zweigleisig, das heißt seine therapeutische Tätigkeit balanciert die Meditation und umgekehrt: „Ich empfinde in der Meditation mein Sein. Sie weist den Erfahrungen den rechten Platz zu.“

Meditation hilft

Menschen, die meditieren, das ist wissenschaftlich nachgewiesen, reagieren anders auf Stress als andere. Es gibt Studien, die belegen, dass Achtsamkeit bei Depressionen genauso wirksam sein kann wie Tabletten. Dass sie Angstgestörten hilft, mit ihren Ängsten umzugehen und Schmerzpatienten, ihre Schmerzen besser zu ertragen. Auch bei Tests der Konzentration und Reaktions-Geschwindigkeit schneiden Meditierende deutlich besser ab. Dies ist vielleicht für den einen oder anderen ein Motivationsschub.

Jaegers bietet die entsprechenden Kurse an. Sein Meditationsraum ist im ZEN-Stil eingerichtet – weniger ist mehr. Eine klare Linie aus Holz(Boden) und Meditationskissen bestimmt das Zimmer. Der weitläufige Balkon ist ebenfalls mit Holzfliesen ausgelegt. Hier hält Jaegers im Sommer gerne Seminare und philosophische Gespräche ab. Die Meditationen sind jeden Donnerstag um 6.30 Uhr gratis, mittwochs um 19 Uhr kostet das „Unternehmen Erleuchtung“ dagegen 25 Euro.

Die Teilnehmer sitzen hier nebeneinander auf Kissen, in der Mitte brennt eine Kerze. Alle sind barfuß, 40 Jahre und aufwärts. Jaegers schließt die Augen und startet mit der Ansage der korrekten Sitzhaltung: gerade und Brust heraus, den Körper weiten. Eine halbe bis Dreiviertelstunde sitzen alle Teilnehmer in Stille und meditieren. Gedanken kommen und gehen. Draußen rauschen die Züge vorbei, bis man sie kaum noch wahrnimmt. Es folgt eine Geh-Meditation auf dem Balkon. Die Teilnehmer laufen Jaegers hinterher, der mal schneller, mal langsamer geht, fast wie in Zeitlupe. Ein wenig skurril sieht das Ganze aus, doch die Geh-Meditation ist deshalb von besonderem Wert, weil die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment gelenkt wird, allein auf die Tätigkeiten des Gehens und Atmens.

So kehrt tiefere Ruhe und Klarheit in den Geist ein. Danach folgt wieder eine Meditation im Sitzen, dann nochmaliges Gehen und schon sind zwei Stunden vorbei. Im Anschluss hält Jaegers einen Vortrag. Es geht um Schuldgefühle und das bessere Erkennen der eigenen Bedürfnisse und Ziele: „Meditation hilft die eigenen Verhaftungen zu erkennen und aus der Fremdbestimmung herauszukommen hinein in das eigene Leben.“ Im Anschluss wird diskutiert: Was ist Hass? Kann ich mich aus alten Mustern befreien? Schnell gehen so drei Stunden vorbei.

Thema Missbrauch

Etwa zehn bis 15 Menschen betreut Jaegers pro Woche therapeutisch. Viele von seinen Klienten leiden unter sexuellem Missbrauch, körperlicher oder geistiger Natur. Bei diesem Thema hat es ihn insbesondere die katholische Kirche angetan. Wenn er darüber redet, gerät er in Rage. Als Junge litt Jaegers selbst unter einem Priester, der körperlich züchtigte und Angst zu verbreiten wusste. Auch später, als Erwachsener, erlebte er, wie dogmatisch Kirche sein kann: „Ich weiß, was es heißt, in der Kirche groß zu werden und sich dort zu engagieren. Daher erkenne ich sie mittlerweile als eine gewalttätige, menschenverachtende Institution, auch wenn andere Religionen nicht weniger gewalttätig sind. Es wird bis in die Gegenwart ganz viel vertuscht. Das heißt nicht, dass in der Kirche nicht viele Menschen ihr Bestes geben, um anderen zu helfen und großartige bereichernde Erlebnisse haben. Die Gewalt geht von vielen institutionellen Vertretern und der katholischen Lehre aus. Diese muss unbedingt in vielen Punkten verändert werden. In der Kirche schien mir das nicht möglich. Deswegen bin ich vor Jahren ausgetreten. Da war viel Enttäuschung, aber auch eine Klärung. Wenn Gewalt ideologisch verbrämt ist, gehört sie unbedingt aufgedeckt und abgestellt.“

Heute bringt Jaegers sein therapeutisches Wissen und sein Wissen über die Kirche in seinem Buch „Warum schweigen die Opfer des katholischen Missbrauchs?“ ein. Es wird bald erscheinen. Sieht er sich denn selbst als Guru? „Ich bin nicht erleuchtet. Ich sehe mich eher als Lehrer. Der Weg der Selbsterkenntnis ist sehr fordernd, auch wenn heutzutage viele Menschen meinen, Meditation oder Yoga wären eine Wellness-Behandlung. Aber darum geht es nicht. Es geht um eine tiefgreifende Veränderung. Und diesen Weg will man gehen, weil es ein inneres Bedürfnis ist. Dazu kann niemand einen anderen bekehren. Das entscheidet jeder selbst für sich.“

von David Gutsche
Foto Katharina Dubno