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Auswandern?! – Eine neue Heimat (sensor Titel)

Sabine Downtown Abbey
Text Mara Braun & David Gutsche

Für den Mainzer liegt das Glück der Erde im Schatten des Doms. Aber wie lebt es sich eigentlich im Rest der Welt? Wir haben mit vier Auswanderern aus Mexiko, England, Afrika und Asien gesprochen.

Den Mainzer an sich dürfte das Verkehrschaos auf der Dauerbaustelle Schiersteiner Brücke eigentlich kaum stören, er verlässt die Stadt sowieso nur ungern. Und auf Zugezogene hat die „Metropole der Provinz“ eine derart einnehmende Wirkung, dass viele von ihnen sich nach kürzester Zeit keck selbst Mainzer nennen und dauerhaft am Rhein sesshaft werden. Weil aber Ausnahmen die Regel bestätigen und die Welt hinter Mainz tatsächlich weitergeht, gibt es viele Menschen, die davon träumen, auszuwandern. Zahlen zu diesem Traum erhebt regelmäßig das Umfrageinstitut Gallup. Demnach gaben zuletzt 13 Prozent der Erwachsenen an, ihr Land gerne dauerhaft verlassen zu wollen. Am begehrtesten sind die USA, gefolgt von Großbritannien, Kanada und Frankreich. Doch träumen alleine reicht nicht. Wer in einem anderen Land leben will, sollte sich vorab gut informieren:
In Deutschland gibt es beim Bundesverwaltungsamt eine Informationsstelle für Auswanderer und Auslandstätige. Deren Ziel: Menschen davor zu bewahren, der Heimat mit falschen Vorstellungen über ihr Wunschland den Rücken zu kehren. Um das zu verhindern, klären die Berater Auswanderungswillige über Visa- und Aufenthaltsfragen ebenso auf wie über arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Regelungen. Auch wer Fragen zu Sprachen, Kultur, Bildungswesen oder klimatischen Besonderheiten seines Wunschlandes hat und sich nicht alleine auf die eigene Internetrecherche verlassen will, ist hier richtig.

England: Die Freiheit, die ich meineSabineBigBen

„Ich kann jedem nur raten, ins Ausland zu gehen“, sagt Sabine Harnau. Sie lebt mit ihrem Partner seit 2011 im englischen Windsor. Den Wunsch, auszuwandern, hatte sie schon mit 15. „Vielleicht, weil ich ein trauriger Teenager war, und dachte, woanders wäre ich glücklicher.“ Während einer Reise, die sie just nach Windsor führt, notiert sie damals in ihr Tagebuch: „Hier möchte ich immer bleiben.“ Dass sie später tatsächlich genau dort landet, war dennoch Zufall. „Aber ich fand Großbritannien schon immer cool. Die Musik, die Geschichte, die Literatur.“

Um tatsächlich ihre Koffer zu packen, fehlte Sabine nach dem Lehramtsstudium in Mainz ein Schubs. „Mein Silvestervorsatz war, in dem Jahr endgültig zu entscheiden, ob ich auswandere.“ Gab es konkrete Gründe fürs Zögern? „Angst vor der Einsamkeit“, vermutet die 32-Jährige. „Ich war im Studium ein Jahr in Edinburgh und anfangs sehr einsam.“ Als sie Freunde in Belfast besucht, lernt Sabine ihren heutigen Partner kennen, der bereits nach Nordirland ausgewandert war. Gemeinsam ziehen sie in die Nähe von London. „Schwer zu sagen, ob ich es alleine gemacht hätte“, überlegt Sabine. „Aber ich bin froh, hier zu leben.“

Den grundlegendsten Unterschied zwischen den Ländern sieht sie im Verständnis von Höflichkeit. „Hier gibt es eine Art negative Höflichkeit. Man lässt einander in Ruhe, starrt Leute nicht so an. Das kommt mir total entgegen.“ Sie fühlt sich dadurch freier. „Ich spüre, dass mich das verändert: wie ich mich kleide; was ich tue. Ich habe kein Problem damit, mich zum Narren zu machen.“ In der neuen Heimat arbeitet Sabine als Service Communications Manager. Dabei hilft ihr eine hohe Sprachbegabung: „Ich schreibe Servicetexte für Firmen.“

Besonders gefällt ihr die große Auswahl an Supermärkten. Dass die Küche der Briten schrecklich ist, empfindet sie dagegen als Klischee: „Ich habe noch nie schlecht gegessen.“ Gewöhnen musste Sabine sich an den fehlenden Personalausweis: „Den gibt es hier nicht. Wenn man beispielsweise ein Konto eröffnet, muss man mit einer Rechnung nachweisen, wo man wohnt.“ Das ist auch in vielen anderen Ländern der Welt der Fall.

Ihr Blick auf Deutschland hat sich aus der Entfernung verändert. „Ich empfinde das Land heute als cooler. Allerdings auch als nahezu feindlich, wenn es um Technologie geht.“ Wieder in der alten Heimat zu leben, kann sich Sabine kaum vorstellen. „Eher möchte ich im Alter eine Hälfte des Jahres in Italien und die andere hier in England wohnen.“

Asien: Viele ParallelenAndre

André Edelhoff hat nicht sein Leben lang davon geträumt, ins Ausland zu gehen, sondern sich nach dem Studium in Mainz „weg-beworben“, weil seine damalige Partnerin einen Job in Vietnam hatte. Die Zeit in Hanoi war für ihn deshalb zunächst als kürzere Episode angelegt: „Ich war vor Vietnam drei Monate in China. Insofern hatte ich eine gewisse Vorstellung, was mich erwartet“, sagt der 36-Jährige, der in Hanoi bei der Friedrich- Ebert-Stiftung arbeitete.

Drei Monate versuchte er dennoch leidlich vietnamesisch zu lernen, doch vergebens: „Die Sprache ist tonal, je nach Aussprache hat ein Wort verschiedene Bedeutungen.“ In Vietnam erlebt André eine Parallel-Gesellschaft, zu der vor allem Leute aus der Entwicklungsarbeit und Botschaftsangehörige gehören: „Gerade weil die Kommunikation mit den Einheimischen fast unmöglich ist, bleiben Ausländer oft unter sich.“ Zumal die Integration für Ausländer in asiatische Gesellschaften traditionell ein sehr schwieriges Unterfangen ist.

In Vietnam fehlt André vor allem eins: Ruhe. „Es ist unheimlich hektisch.“ Dagegen bewertet er die Begeisterungsfähigkeit der Menschen als positiv. „Erstaunlich war auch die Melange aus Luxus und Armut. Das ist essenzieller als bei uns.“ Als André fast auf dem Rückweg nach Deutschland ist, eröffnet sich eine Jobmöglichkeit in Singapur: „Das war so ein Zwittermoment. Ich hatte mich auf Zuhause gefreut und gleichzeitig das Gefühl, in Südostasien noch nicht ‚fertig‘ zu sein.“

Jetzt arbeitet er bei einem Universitätsnetzwerk an der National University of Singapore und betreut Forschungs-Kooperationen im asiatischpazifischen Raum. „Hier habe ich viel mehr Anschluss an die lokale Bevölkerung als in Vietnam.“ Die sprachlichen, aber auch kulturellen Barrieren seien deutlich niedriger. „Man kennt dieselben Bands, Serien oder Kinofilme wie in Europa.“

Auch sonst sieht er Parallelen, insbesondere zu Deutschland: „Alles ist sehr geordnet und samstags steht die Autowäsche an. Nur lässt man hier waschen.“ Zu schaffen macht dem Kosmopolit lediglich das Wetter. „Mir fehlen die Jahreszeiten. Immer 28 bis 32 Grad und diese irre Luftfeuchtigkeit, das ist heftig.“ Manchmal muss er sich bewusst in Erinnerung rufen, dass er eigentlich im Paradies lebt.

„Besonders fällt mir das auf, wenn ich Besuch von zu Hause habe, die das total genießen“, gesteht er lachend. Umgekehrt gibt es in Deutschland einiges, was er aus der Erfahrung erst schätzen lernt. Auch deshalb möchte André irgendwann wieder hier leben: „Ich lerne im Ausland viel dazu, auch über mich selbst. Aber etliches habe ich in Deutschland nie erlebt. Zum Beispiel habe ich bisher nur im Ausland gearbeitet. Diese Erfahrungen möchte ich gerne noch machen.“

Afrika: Der Ursprung allen Lebenskatha

Als Katharina Lahr nach ihrem Pädagogik-Studium drei Monate in Peru verbringt und in einem Kinderprojekt arbeitet, macht sie eine prägende Erfahrung: „Mir wurde bewusst, wie wenige Fähigkeiten die Kids haben, Probleme im Dialog zu lösen.“ Sie möchte dazu beitragen, diese globale Problematik zu verbessern, und macht ihren Master in Friedens- und Konfliktforschung. Thema ist die juristische Aufarbeitung von Straftaten an Frauen während des Genozids in Ruanda, wo sie einige Zeit verbracht hat.

„Nach dem Studium wollte ich dort unbedingt wieder hin, aber es ist nicht leicht, einen Job zu finden.“ Katharina möchte in die Entwicklungshilfe – zunächst geht sie dafür in den Südsudan. „Damals war der noch Teil des Sudan: Ich habe die Unabhängigkeit unseres jüngsten Landes live miterlebt.“ Wenn Katharina unseres Landes sagt, meint sie damit Afrika: „Das ist einfach mein Kontinent – zu Afrika werde ich mich immer hingezogen fühlen.“

Es ist eine spezielle Bindung, die sie zum ersten Mal vor Jahren bei einem Urlaub gefühlt hat. „Hier kommt die ganze Menschheit her, das spürt man. Es ist eine große Wärme und Ursprünglichkeit. Seit der Reise war mir klar, hier möchte ich leben.“ Ihr Wunschland ist Sierra Leone und dorthin bewirbt sie sich von Deutschland aus, als sie aus dem Südsudan zurückkehrt.

Heute lebt Katharina in Sierra Leones Hauptstadt Freetown in einem kleinen Häuschen. „Es liegt an einer Seitenstraße der Hauptstraße. Aber sie ist unbefahrbar, weil man sofort in ein Schlagloch fallen würde.“ An die Lebensumstände in der neuen Heimat musste sie sich erst gewöhnen. „Das Stromnetz ist überall da besonders gut, wo wichtige Leute in der Nachbarschaft leben.“ Längst hat sie daher für Notfälle einen Generator.

Katharina bildet Kollegen aus, die der Landbevölkerung helfen, ihre Rechte wahrzunehmen. „Der Analphabetismus hier liegt bei 70 Prozent. Die Leute können die Gesetze nicht lesen. Wir klären auf.“ Der Umgang mit ihren Kollegen sei positiv. „Die Menschen sind unheimlich offen und haben einen tollen Humor.“ Schwierig findet die 36-Jährige, die eigene Kultur zu ‚übersetzen‘: „Du musst diese Unterschiede im Hinterkopf haben, um Dinge nicht misszuverstehen oder falsch zu transportieren.“

Als in einigen Ländern Afrikas Ebola ausbricht, ist Sierra Leone auch betroffen. Katharina ist gerade in Kenia im Urlaub und darf nicht zurück. „Das war furchtbar. Als würde man alle im Stich lassen.“ Mittlerweile ist sie jedoch zurück in Freetown und überglücklich. Zwar kann sie sich vorstellen, wieder in Deutschland zu leben, „aber wenn ich am Ende meines Lebens zurückschaue, möchte ich mehr Zeit in Afrika verbracht haben.“

Amerika: Mitten in Mexiko2Mexiko3sp

„Das erste Jahr war einfach nur beschissen“, bricht es aus Marlen Schnabel hervor. Mit ihrem Mann Sebastian und beiden Kindern ist die 29-jährige vor eineinhalb Jahren nach Mexiko gezogen, sechs Wochen nach der Geburt ihres zweiten Sohnes. Und die Anfangszeit war hart: Krankheiten, Unfälle, gefühlte Isolation und vor allem auch die Sorge und Angst vor der hohen Kriminalität im Land ließen sie beinahe aufgeben.

Doch nach einem Jahr kam die Kehrtwende: Marlen lernte nach und nach die Sprache, traute sich mehr hinaus und suchte Bekanntschaften u.a. in mehreren Sportgruppen: „Jetzt kann ich mein Leben und meine Freiheit wieder leben und die Glückseligkeit und Bestätigung sind wieder da.“  Sebastian (39 Jahre) erhielt damals vom SWR das Angebot, als Cutter für fünf Jahre nach Mexiko City zu gehen. Mexiko war zwar nicht das Traumland des Exil-Mainzers, aber da er schon immer einmal für längere Zeit im Ausland leben wollte, musste er „so eine einmalige Chance nutzen“.

Die kleine Familie wohnt nun in einem schönen Haus mit großem Garten sowie eigenem Personal: „Die Personalkosten hier sind sehr günstig.“ Eine Haushälterin macht das Frühstück, wäscht und organisiert, dazu kommt eine Kinderfrau für den ganz Kleinen. „Unsere Kids sind extrem aktiv. Ständig muss man aufpassen, was die als nächstes anstellen“ sagt Sebastian. So haben sich die Kleinen gleich viel schneller eingewöhnt als ihre Eltern und sprechen bereits fließend spanisch. Auf diese Weise entstanden auch nach und nach Kontakte zu anderen Familien und Nachbarn. Aus der deutschen Community halten sich die Schnabels aber heraus: „So kommst du nicht ins wirkliche Leben rein. Man vermeidet damit die Anpassung.“

Trotz viel Sonnenschein und einer mittlerweile guten Eingewöhnung ist Mexiko keine Fiesta: Kriminalität, Drogen- und Organhandel, Korruption und andere Probleme stehen auf der Tagesordnung des Landes. Die Kriminalitätsrate ist sehr hoch, besonders in den Großstädten. In Mexiko-Stadt werden täglich mehrere Hundert Delikte gemeldet. Daher treffen sich die Schnabels alle zwei Monate zu Gesprächen mit Nachbarn und Leuten aus ihrem Viertel, wie man am besten mit der Situation umgeht. Das vermittelt ihnen ein stärkeres Gefühl von Sicherheit.

Es sei wichtig, das Land so zu akzeptieren, wie es ist: „Hier ticken die Uhren anders. Es läuft auch alles langsamer“, erzählt Marlen, „mit der deutschen Brille im Kopf wirst du hier gaga.“ Dafür schätzt sie wiederum die günstigen Preise, vor allem für Früchte und Nahrungsmittel: „Säfte kosten um die 30 Cent. Wir können uns viel gesünder ernähren“, und Sebastian ergänzt: „Ich genieße vor allem auch die Freundlichkeit der Menschen. Die nehmen sich einfach Zeit, egal wie lange es dauert. Das kann manchmal ganz schön weit gehen.“

Einiges an Zeit haben die Schnabels auch noch vor sich, knapp vier Jahre dauert Sebastians Arbeitsvertrag. Würden beide denn wieder zurück nach Deutschland kommen? Die Antwort fällt gemischt aus: „Wir möchten schon zurück, auch wegen der Kinder und ihrer Großeltern. Auch, um wieder in das deutsche Leben zurückzufinden, wären fünf Jahre eine halbwegs gute Zeit. Aber wer weiß, was bis dahin passiert. Wir planen nicht so viel“ sagt Sebastian.

Wer also mit dem Gedanken spielt auszuwandern, dem empfehlen die Schnabels vor allem ein hohes Maß an Stabilität: „Wenn du zu den Start-Schwierigkeiten noch Beziehungs-Trouble hast, dann kann es hart werden.“ Aber hart ist es am Anfang überall, egal wo. Ankommen dauert nun einmal. Einfach aus einer Laune heraus auszuwandern, sei daher schwierig. „Dann ist es vielleicht doch schöner, einfach nur einen Sommerurlaub im „Traumland“ zu machen. Denn am Ende ist es nirgendwo viel besser oder schlechter: Überall haben Menschen auch ihre Probleme und Schwierigkeiten. Das kommt nicht von ungefähr“, fällt Sebastian dazu ein und Marlen ergänzt: „Aber es erweitert den Horizont und bereichert. Nur dauert es eben und das muss man akzeptieren.“