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So wohnt Mainz: Zusammenleben in Koalition


von Vanessa Renner
Fotos: Frauke Bönsch

Zu Besuch in der Josefsstraße 37: Zwei unterschiedliche Parteien als eine Wohnpartei. Das ist das Ehepaar Astrid Becker und Rainer Christ. „In Koalition“, betont Rainer Christ. Und ein „fast immer“, fügt seine Frau hinzu und beide lachen. Die Referentin im Integrationsministerium und der Referent im Bildungsministerium sind in verschiedenen Parteien engagiert. Sie bei den Grünen, er bei der SPD. „Seit Ewigkeiten“, sagt er mit einem gedehnten „E“. Auch im Ortsverein, Ortsverband und Stadtrat sind sie engagiert. So gestalten sie das Zusammenleben der Menschen in der Neustadt mit, in der sie seit 20 Jahren wohnen. Und „wohnen bedeutet nicht nur, an einem bestimmten Ort zu leben“, sind sie überzeugt, „dazu gehört auch, sich in das Gemeinwesen einzubringen.“ Gutes Zusammenleben komme nicht von allein. Zumal in der Neustadt, in der viele Menschen auf engem Raum wohnen, darunter Angehörige verschiedener Nationalitäten und Religionen. „Aber es funktioniert prima“, freut sich Rainer Christ, „und das war nicht immer so.“

Neustadt: Bürgerpartizipation und Engagement

So musste die Neustadt erst ein Bewusstsein von sich als Stadtteil entwickeln. Ihre Bewohner brachten mit Engagement Initiativen auf den Weg, die der Neustadt ein „ganz eigenes Flair“ gaben, beschreibt Astrid Becker – ein lebendiges Viertel mit einer regen Kreativszene, bunten Kneipen, Straßenfesten und interkulturellen Vereinen. „Wohnen endet nicht in den eigenen vier Wänden.“ Rund zehn Jahre arbeitete sie ehrenamtlich im Bürgergremium der „Sozialen Stadt“. Das Programm habe viel auf den Weg gebracht, ist sie überzeugt. Angefangen mit der Sanierung von Kindertagesstätten über Grünanlagen bis hin zur Barrierefreiheit. „Ein entscheidender Punkt war, die Bürger zur Partizipation zu aktivieren“, ergänzt Rainer Christ. Er engagierte sich in einem Förderverein zur Integration von Menschen mit Migrationshintergrund ebenso wie in einer Projektgruppe des Open Ohr Festivals.
Auch der Dialog zwischen den Religionen spielt für das Ehepaar eine wichtige Rolle. „Dass wir direkt neben der Synagoge leben, ist toll“, findet Astrid Becker, „die Einweihung war sehr bewegend.“ Rainer Christ erinnert an die frühen 80er Jahre: „Wir haben am 9. November an einem Gedenkstein den Opfern der Reichspogromnacht gedacht. Das waren zu Beginn zehn Leute.“ Die Einweihung der Synagoge markiere eine bedeutende Entwicklung. Während sich die Eheleute erinnern, flackert eine lebhafte Begeisterung in ihren Augen. „Spannend, sich mit der Geschichte seines Stadtteils zu beschäftigen“, findet Astrid Becker, „das schafft Verbundenheit.“

Hell und freundlich – viel Platz für Gäste

Doch auch die Wohnung erzählt einiges über das Ehepaar. Die hohen, hellen und freundlichen Räume ihrer Altbauwohnung bieten viel Platz für Gäste. Weit geöffnet ist die Flügeltür, die den Flur mit dem Wohnraum verbindet. Der große Tisch im Wohnzimmer lädt zum Beisammensein ein. Jedes Jahr zum Gutenberg-Marathon schlagen Laufbegeisterte in der Wohnung des Ehepaars ihr Lager auf – unterhalb des Fensters liegt ein Teil der Strecke.
Die Holzmöbel, die die Blicke von Besuchern auf sich ziehen, hat ihr Vater gebaut, erklärt Astrid Becker. Eine Anrichte im Wohnzimmer erinnert an einen Besuch in einem teuren Möbelgeschäft. Über der Anrichte schmückt ein Gemälde die Wand – ein Überbleibsel der Kunstaktion „3 Mal klingeln“: Alle zwei Jahre verwandelt sich die Wohnung dafür in einen Ausstellungsraum. „Eine tolle Veranstaltung“, sind sich beide einig. „Wir hatten 400 Gäste. Das ist eine schöne Gelegenheit, interessante Menschen kennen zu lernen.“ Astrid Becker selbst malt seit 15 Jahren. Ihre Bilder lagern im Arbeitszimmer: kräftige, leuchtende Ölfarben sind ihr Markenzeichen.
Zum Abschied grüßen die Stoffbären Hamlet und Bruno vom roten Sofa. Als treue Fußballfans, wie auch Rainer Christ und Astrid Becker welche sind, tragen sie selbst gestrickte Mainz-05-Pullis. „Zu Wahlkampfzeiten tauschen wir die gegen Sonnenblumenpullis“, erzählt Astrid zwinkernd. Ob das die Koalition der Josefsstraße 37 nicht gefährde? „Nein. Aber im Zweifelsfall halten Hamlet und Bruno zu mir“, ist sich die Grünenpolitikerin sicher.