Direkt zum Inhalt wechseln
|

Mainz: Leben in der Pleitestadt

abba bunt 2
von Felix Monsees, Illustration: Lisa Lorenz

Mainz hat etwa 1 Milliarde Euro Schulden. Die werden nun mithilfe des „Kommunalen Entschuldungsfonds“ (KEF) mindestens 15 Jahre lang abgetragen. 10 Millionen Euro muss die Stadt dafür jährlich sparen. Was bedeutet das für die Mainzer?
Am 12. Juni dieses Jahres tagte der Stadtrat im Mainzer Rathaus. Die Politiker diskutierten, unter welchen Bedingungen sie einen Vertrag schließen sollten, der wesentliche Einschnitte mit sich ziehen würde. Der aber auch die Grundvorausetzung dafür war, am so genannten „Kommunalen Entschuldungsfond (KEF) teilzunehmen – ein Fond, der Schuldenabbau unterstützt und so die finanziellen Belastungen erheblich mindert: Die Städte verpflichten sich ihre Verbindlichkeiten abzubauen und kriegen dafür Geld vom Land. Mainz hat sich verpflichtet, jährlich 10 Millionen Euro einzusparen über einen Zeitraum von mindestens 15 Jahren. Dafür kommen 20 Millionen durch den KEF dazu. Das sind 30 Millionen Euro an Einsparungen pro Jahr. In 15 Jahren kommen so 450 Millionen Euro zusammen – also die Hälfte der städtischen Gesamtschulden von etwa 1 Milliarde. Ob das so klappt wie sich das alle vorstellen, bleibt abzuwarten. Die Teilnahme am Fond war und ist mit harten Sparmaßnahmen verbunden. Bürgermeister und Finanzdezernent Günter Beck (Grüne) oblag die Aufgabe zu schauen, wo Spar-Potenzial liegt. Wie ein Paukenschlag traf es mit als erstes das Staatstheater. 300.000 Euro weniger für den Mollerbau und Intendant Fontheim schrie auf. Letztlich half jedoch alles nichts und das Problem wurde kurzerhand gelöst, indem das TiC am Schillerplatz schließen musste und ins „Deck 3“ des Theaters zog sowie neue Abo-Modelle gefunden wurden, beispielsweise Kooperationen mit den ASten der Hochschulen. Eingespart werden musste trotzdem – auch an Personal – und das war hart fürs Haus. Die Erhöhung der Grundsteuer B und der Hundesteuer wurde zu diesem Zeitpunkt bereits vollzogen – Hundehalter und Gebäude- und Wohnungsbesitzer waren also die nächsten Leidtragenden. Von den Gesamtschulden entfallen 817 Millionen Euro auf Liquiditätskredite. „Wir zahlen pro Tag 62.000 Euro Zinsen“, erklärt Beck. Nicht eingerechnet sind die Verbindlichkeiten der stadtnahen Gesellschaften. Wie konnte es so weit kommen? Mainz ist doch eine schöne Stadt in der boomenden Rhein-Main-Metropolregion. Die Arbeitslosenquote liegt deutlich unter dem Bundesschnitt und bei den Mietpreisen sind wir ganz vorne mit dabei: 10,38 Euro pro Quadratmeter (Quelle: empirica-systeme). Warum sind wir also so arm, dass selbst die Brunnen in der Stadt nicht mehr fließen, Grünanlagen verkommen und Straßen nicht repariert werden?

Schuldenberg durch Misswirtschaft
Martin Kinzelbach (SPD), Mitglied des Stadtrates, sitzt an einem Tisch in einem griechischen Restaurant. Er wohnt in Gonsenheim gleich um die Ecke und die Bedienung nennt ihn beim Vornamen. Es muss irgendwann in den 80ern gewesen sein, als der Haushalt anfing schief zu laufen, erinnert sich Kinzelbach. Anfang der 90er wurden die Fehlbeträge immer größer. Kinzelbach guckt durch seine Unterlagen, die er auf dem Restauranttisch ausgebreitet hat. 2006 war der Punkt erreicht, an dem der Schuldenstand die Höhe des Jahreshaushalts annahm. Heute hat jedes neugeborene Mainzer Kind bei Geburt sozusagen über 4.000 Euro Schulden. Der Schuldenberg ist auch durch Misswirtschaft entstanden. Prominentestes Beispiel ist die Wohnbau, die einst gegründet wurde, um sozialen Wohnungsbau zu betreiben. „Von der Politik getrieben“ und auf eigenen Wunsch, so beschreibt es Kinzelbach, engagierte sich das Unternehmen in sinnlosen Unternehmungen wie den Markthäusern oder dem Restaurant Mollers auf dem Theater. Dadurch geriet es in finanzielle Schieflage. 117 Millionen Euro Neuverschuldung der Stadt kostete die Rettung der Wohnbau. Noch immer versucht die Stadt, vor Gericht Regressansprüche gegenüber den Verantwortlichen durchzusetzen. Heute ist die Wohnbau weitgehend saniert und besinnt sich unter dem neuen Chef Thomas Will lieber wieder zurück auf ihre Kernkompetenz: „sozialer“ Wohnungsbau.

Kredite fressen Handlungsspielraum
„Die Gesamtverschuldung der Kommunen in Rheinland-Pfalz zum 31.12.2011 betrug 11,4 Milliarden Euro. Das sind über 6,6 Milliarden mehr als 2007“, schreibt die Bertelsmann-Stiftung einen Monat nach der Diskussion im Stadtrat. Die kommunale Finanzkrise – nicht nur in Rheinland-Pfalz – hat zwei Ursachen. Zum einem nehmen die Aufgaben der Städte zu und damit auch die Ausgaben. Etwa die Hälfte der städtischen Gelder geht für soziale Leistungen drauf, beispielsweise Hartz IV. Wenn das Land zudem kostenfreie Kindergartenplätze verspricht, sind es die Kommunen, die zahlen. Lange haben die Städte auf das Problem reagiert, indem sie Kredite aufnahmen. „Die Kassenkredite stiegen von 3,3 auf 5,6 Milliarden Euro. Sie machen mittlerweile die Hälfte aller kommunalen Schulden aus“, schreibt die Stiftung weiter. Strukturelles Defizit heißt dieser Gegensatz zwischen den Aufgaben, die der Bund den Kommunen zuweist und den finanziellen Mitteln, die zur Verfügung stehen. „Mehr Kostengerechtigkeit“, fordert daher Kinzelbach bei alkoholfreiem Weizenbier und Saganaki. Der Bund müsse Strukturen schaffen, dass die Kommunen wenigsten im Ansatz klar kommen können. Die Kredite kosten auch wieder Geld. Und: Je mehr Kassenkredite die Kommunen aufnehmen, desto weniger Investitionskredite können aufgenommen werden. Der Handlungsspielraum der Städte nimmt also ab. Plötzlich fehlt Geld für Bau und Instandhaltung von Straßen, Schulgebäuden und sonstiger städtischer Infrastruktur. Und wenn Gebäude nicht instand gehalten werden, verlieren sie an Wert. Derzeit prominentestes und umstrittenstes Beispiel ist das Mainzer Rathaus, dessen Sanierung über 50 Millionen Euro kosten würde. Eine Alternative wäre der Abriss, nach dem es derzeit jedoch nicht aussieht. Bis zum großen Knall bleibt dieser Prozess für die Bürger unsichtbar. „Der Sanierungsstau ist viel zu hoch“, beklagt Kinzelbachs Genossin und Baudezernentin Marianne Grosse in einem Zeitungsartikel und gibt den schwarzen Peter weiter: Die ADD schreibe der Stadt genau vor, welche Maßnahmen umgesetzt werden dürften. „Und das sind nur die absolut notwendigsten.“

Sparen trifft Sozialschwache
Der städtische Haushalt lässt sich in zwei Bereiche einteilen: notwendig und freiwillig. Notwendig sind beispielsweise Transferleistungen oder Kindergartenplätze. Notwendig bedeutet: Hier kann nicht gespart werden. Bleiben also die freiwilligen Ausgaben. Darunter fallen zum Beispiel Schulsozialarbeit, Musikschulen oder öffentliche Bibliotheken – städtische Brunnen, die aufhören zu sprudeln. „Man kann sich über den Begriff Freiwilligkeit streiten“, sagt Kinzelbach und beugt sich vor: Man müsse aber auch den präventiven Gedanken beachten. Wer durch das Schulsystem fliegt, weil sich keiner um ihn gekümmert hat, der kostet die Stadt später noch mehr Geld. Deshalb hält er einen ausgeglichenen Haushalt zwar für erstrebenswert, aber nicht um jeden Preis. Man könne sich kaputt sparen, wie dies im August mit der gemeinnützigen SPAZ GmbH passiert ist. Die mussten schließen, weil die Zuschüsse vom Bund immer weniger wurden. Durch die beschlossene Schuldenbremse (siehe unten) könnte sich die Situation verschärfen. „Lieber habe ich ein paar Schlaglöcher mehr auf den Straßen, als dass ich in den Kernbereichen Bildung und soziale Gerechtigkeit spare“, verkündet Sozialdemokrat Kinzelbach, der zudem persönlicher Referent von Bildungsministerin Doris Ahnen ist. Doch letztlich treffen alle Kürzungen die Sozialschwachen am härtesten: Die Erhöhung der Grundsteuer B trifft zum Beispiel nicht nur Wohneigentümer, sondern auf dem Umweg der Mieterhöhung auch die Mieter. Das spüren vor allem Einkommensschwache, die in Mainz schon mal die Hälfte des Lohns für ein Dach über dem Kopf aufbringen müssen.
Um den Vertrag mit der ADD unterzeichnen zu können, wurden auch verwaltungsinterne Aufgaben optimiert und der Dienstwagenpool der städtischen Dezernenten beschnitten. „Auf der Ausgabenseite kann nicht mehr viel passieren“, gesteht Kinzelbach, nippt am Weizen und stellt das Glas zurück auf den Tisch. Man könne nicht einfach mit dem Rasenmäher über die Ausgabeliste gehen und jedem 10 Prozent weniger in die Hand drücken. Bleiben also die Einnahmen: Steuern wurden schon erhöht. Der Tourismus wird als Geldbringer unterschätzt, findet Kinzelbach. Neues Geld kommt zudem mit neuen Firmen: Mitte September verkündete die US-Firma Deublin, 2014 auf die grüne Wiese nach Mainz zu ziehen. Gute Nachrichten für die Stadt. Kinzelbach schlägt vor in Richtung Bodenheim und Mombach noch mehr Gewerbefläche auszuweisen. „Deshalb brauchen wir auch dringend ein Einkaufszentrum in der Stadt. ECE und Investoren sind willkommen. Das muss die Botschaft sein“, findet er und verteidigt die auch in seiner Partei umstrittenen Pläne zur Shopping-Mall in der Innenstadt.

Der Druck nimmt zu
An einem Freitagmorgen im Finanzamt Mainz-Mitte. Dr. Peter Tress hat drei Jobs. Er ist Vorsteher des Amtes am Schillerplatz, finanzpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion und im Stadtrat. Nur mit dem ersten Job verdient er Geld. „Guten Morgen“, grüßt seine Vorzimmerdame. Tress sitzt an seinem Schreibtisch und studiert eine Wirtschaftszeitung. Die Sparvorhaben, die die Ampelkoalition im Juni präsentierte, fanden nicht seine Zustimmung. Vor allem die Erhöhung der Einnahmenseite missfällt ihm: „Die Leidensfähigkeit der Bürger ist erreicht und trifft nicht nur die Vermögenden.“ Er steht auf und setzt sich an den runden Konferenztisch. Der Entschuldungsfond gefällt ihm auch nicht. Die Mittel für den Fond nimmt das Land teilweise aus dem kommunalen Ausgleichstock. Es fehlt den Städten also an anderer Stelle. Der Christdemokrat hat ganz andere Vorschläge: Die Stadt habe zu viel Personal, „entlassen oder erschießen“ müsse man niemanden. Doch man solle darüber nachdenken, nicht jede Stelle sofort neu zu besetzen. Tress hat noch weitere Vorschläge: Überall seien kleine Beträge versteckt, an denen die Stadt sparen könnte. Vielleicht könnte man in der Innenstadt nur jede zweite Lampe anstellen? Er schreitet zurück an seinen Schreibtisch und nippt an seinem Kaffee: „Ein richtiges Ende der Schulden sehe ich nicht.“ Und was, wenn wir nicht sparen? Jahrelang sind wir doch gut zurechtgekommen. „Die Zinslasten der Schulden werden uns irgendwann erdrücken“, antwortet Tress, „der Standard wird nicht mehr zu halten sein.“ Dann gibt es weder sprudelnde Brunnen noch Alten- Nachmittage. Ähnlich äußert sich der politische Gegner Kinzelbach: „Wenn wir nicht sparen, hat die Stadt irgendwann kein Vermögen mehr. Alle Wertgegenstände müssen dann versilbert werden.“ Für die Bürger bleibt das Desaster unsichtbar. So lange, bis die Politiker die Schulden angehen und einsparen. Vielleicht blieb deshalb das Problem so lange liegen. Erst jetzt ist der Leidensdruck groß genug, auch unpopuläre Einsparungen umzusetzen, wird Oberbürgermeister Michael Ebling zitiert.