von Benjamin Schäfer, Illustration: Lisa Lorenz
Lydia Herdt hat sich durchgebissen. Als Aussiedlerkind nahm ihr Weg in der Hauptschule ihren Anfang. Dann folgten Ausbildungen, Anstellungen und die Arbeitsmarktrealität. Schließlich machte sie ihre Fachhochschulreife nach und studierte Industriedesign in Pforzheim. Mit ruhiger Stimme erzählt die 35-Jährige, wie ihr Existenzängste und Gegenwind in ihrem Umfeld zu schaffen machten. Um ihre Erfahrungen mit dem Studium weiter zu geben, hat sie sich der Mainzer Ortsgruppe des Netzwerkes „Arbeiterkind“ angeschlossen.
Seit 2008 versucht „Arbeiterkind“ Kindern aus Nicht-Akademikerfamilien den Einstieg ins Studium zu erleichtern. Zunächst handelt es sich um ein Internetforum, in dem Schüler, Eltern und bereits Studierende alle Fragen rund um Uni und Fachhochschule stellen können. Die ehrenamtlichen Helfer gehen aber auch in Schulen und halten Vorträge. Angestrebt wird schließlich eine individuelle und längerfristige Zusammenarbeit, ein so genanntes „Eins-zu- Eins-Mentoring“.
„Stipendien gab es in meiner Welt nicht“
Denn ein Studium kann sich auszahlen: Laut einer aktuellen Studie lag die Arbeitslosigkeit von Akademikern 2011 mit 2,4 Prozent deutlich unter der allgemeinen Quote von 6,9 Prozent. Der Anteil von Studierenden mit so genannter „niedriger Bildungsherkunft“ ohne Berufsausbildung im Elternhaus nimmt dagegen ab: In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Quote nach Angaben des Deutschen Studentenwerkes auf neun Prozent mehr als halbiert. Die Hochschulen müssen sich aber weiter öffnen, diesen Standpunkt vertritt mittlerweile auch die deutsche Hochschulrektorenkonferenz. Nadine Schäfer etwa weiß von den Sorgen der Studi-Pioniere. Ihre Schwester studierte bereits, als die 25-Jährige sich vor zwei Jahren in Mainz für Kunstgeschichte und Kulturanthropologie einschrieb. Deswegen konnten ihre Eltern die Neu- Akademikerinnen nicht finanziell unterstützen. Schäfer bekommt den halben Satz des staatlichen Geldes nach Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAFöG) und macht nebenher Nachtwachen in einem Wohnheim. „Stipendien gab es in meiner Welt nicht“, sagt sie knapp. Als sie schließlich doch eine passende Stiftung gefunden hatte, war es bereits ein halbes Jahr zu spät für eine Bewerbung.
Fremde Rituale an der Uni
Finanzierungsfragen stehen meist im Vordergrund bei den Neu-Studieren- den. Jüngst etwa kam eine Anfrage aus Wiesbaden über die Arbeiterkind- Homepage, in dem sich eine Studieninteressentin über Förderungsmöglichkeiten für Exkursionen im Geografie-Studium erkundigte. Die Exkursionen gehen meistens weltweit und einigen fehlt dafür das nötige „Kleingeld“. Dazu kommt, dass man sich als Erster in der Familie alles selbst erarbeiten muss. Es gibt keine Historie, keine Selbstverständlichkeit: „Wenn man nicht aus dem Akademiker-Umfeld kommt, fehlen einem die Vorbilder“, beschreibt Eva Gerold vom Studierendenwerk Mainz das Problem. Nadine Schäfer etwa verstand am Anfang die Zitierweise ihres Instituts nicht. „Es war zum Heulen“, sagt sie im Rückblick. „Ein Vater, der das auch schonmal durchgemacht hat, wäre da nett gewesen.“ Nach einer Untersuchung der Hans- Böckler-Stiftung besitzen Kinder aus Nicht-Akademikerhaushalten aber auch eine „anerzogene Unsicherheit“ und haben oft Probleme sich zu präsentieren, etwa in Diskussionen. Gerold, die in der Studienberatung tätig ist, spricht sich hier für eine individuelle Partnerschaft auf Augenhöhe zwischen „Mentor“-Studenten und „Mentee“-Interessenten aus.
„Fragen, so blöd man sich auch vorkommt“
Arbeiterkind ist rasch gewachsen und besitzt nach eigenen Angaben in 70 Städten Ortsgruppen. In Mainz werden Fragen und Nöte von etwa zehn Helfern bearbeitet. Viele sind selbst noch im Studium und auch manchmal die ersten in der Familie, die studieren. Für Einsteiger gibt es Workshops, in denen etwa das Mentoring erlernt werden kann. Die Mainzer Gruppe kann zwar viele Online-Anfragen sowie Schulvorträge vorweisen, eine längerfristige Eins-zu-Eins-Beratung hat es aber noch nicht gegeben. Nadine Schäfer, die die lokale Facebook-Präsenz betreut, vermutet eine Scheu der Interessenten etwa auf dem monatlichen Stammtisch in der Lomo Bar am Ballplatz zu erscheinen. „Fragen, fragen, so blöd man sich auch vorkommt“, rät sie rund um Uni und Co. Sie selbst möchte später in den Galeriebetrieb einsteigen, sich mit zeitgenössischer Kunst beschäftigen. Auch Lydia Herdt hat sich durchgekämpft. „Zur Schule muss jeder, aber zum Studium entscheidest du dich selber“, weiß sie lächelnd. www.arbeiterkind.de