von Alexander Pfeiffer und Kai Pelka (Fotos):
Wir befinden uns im Jahre 2016 n. Chr. Der ganze Musikmarkt wurde vom Internet besetzt… Der ganze? Nein! Eine von unbeugsamen Händlern bevölkerte Gemeinschaft hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten. Und sie machen den virtuellen Legionären das Leben so schwer wie möglich. Wir haben sechs von ihnen diesseits und jenseits des Rheins besucht.
„Gute Nachrichten“, verkündete der Bundesverband Musikindustrie (BVMI) Anfang März und präsentierte eine Bilanz, die ein Plus von 4,6 Prozent aufweist: 1,55 Milliarden Euro wurden mit dem Verkauf von Musik 2015 hierzulande umgesetzt. Den größten Zuwachs verzeichnet das Streaming: Die Zahl der wöchentlich gestreamten Songs lag Ende 2015 mit 617 Mio. fast doppelt so hoch wie 2014 und macht so 14,4 Prozent des Gesamtumsatzes aus, Downloads weitere 15 Prozent. CD-Verkäufe machen – allen Abgesängen auf physische Tonträger zum Trotz – mehr als 60 Prozent aus. Die gute alte Schallplatte verzeichnet ein Plus von mehr als 30 Prozent, bleibt mit 3,2 Prozent vom Umsatz aber Nischenprodukt. Die Zahlen belegen Ein Großteil der Hörer will Musik weiter in physischer Form besitzen, sich Tonträger ins Regal stellen, wie man es mit Büchern tut.
Mainz
Lautstark, Augustinerstr. 17
Der Wiesbadener „Lautstark“-Ableger hat sich vor wenigen Wochen ins Internet verabschiedet. In Mainz hält Günter Wiesmann seit 16 Jahren mit seinem „Kulturkaufhaus in der Altstadt“ die Stellung. Von draußen weht einen die Musik an, die drinnen in langen Regalreihen feilgeboten wird. „Davon lassen sich die Leute inspirieren, reinzukommen“, erklärt Boris Neugebauer hinter der Kasse. „Wir haben nicht nur gängige Musik, auch Sonny Rollins oder Stockhausen.“
Ob neu oder gebraucht, Vinyl oder CD, das Sortiment bietet so ziemlich alles von Rock über Blues und Soul bis Klassik. Aus den Lautsprechern dringt smoother Jazz, an der Wand verkündet ein Plakat: „Vinyl is forever“. In einer Vitrine stehen Schätze von Jelly Roll Morton bis Beethoven. „Heute ist so vieles abstrahiert und technisiert“, sagt Neugebauer. „Es ist was Besonderes, ein Medium in der Hand zu halten.“ Nach einer Empfehlung gefragt, serviert er spontan den Saxophonisten Kamasi Washington, dessen flirrender Space Jazz auf seinem ersten Soloalbum „The Epic“ voll zum Tragen kommt.
Overdrive, Hintere Bleiche 47
Techno-Veteran Andy Düx betreibt seinen Laden seit 1992 in Mainz und ist seit 2010 im Bleichenviertel beheimatet. Beim Anblick der Einrichtung könnte man nostalgisch werden: Etwa 10.000 Tonträger hat Düx auf Lager, fast ausschließlich auf Vinyl. „Im elektronischen Bereich will keiner CDs. Das wird auch von den Labels kaum noch angeboten“, sagt er. Neben der üblichen Hörstation mit Kopfhörern gibt es ein komplettes DJSetup mit Plattenspieler, Mixer und Boxen, denn „80 Prozent der Kunden sind DJs. Die wollen hören, wie die Sachen laut klingen.“ Wie zur Bestätigung schneit ein Schlacks mit Hornbrille und Wollmütze rein, schnappt sich einen Stapel Platten, schmeißt sie in schneller Folge auf den Turntable und lässt die Einrichtung erzittern. Gut 90 Prozent des Sortiments macht elektronische Musik aus, dazu gesellt sich ein kleines Segment Second- Hand-Platten. „Techno ist wieder schwer im Kommen“, lautet Düx’ Beobachtung. Er hat nicht nur die Platten, sondern auch das DJ-Equipment, kann dazu vieles binnen 48 Stunden besorgen.
Punk-Shop, Kaiser-Wilhelm-Ring 11
Seit 2001 gibt es dazu den Lagerverkauf nahe des Hauptbahnhofs. Den Großteil des Umsatzes macht das Mailorder-Geschäft aus. „Etwa zwei bis drei Kunden schauen pro Tag rein“, erzählt der Inhaber, der große Rest läuft über Internet und Telefon. Schade eigentlich, man könnte hier viel Zeit beim Stöbern verbringen und die üppigen Restauflagen von Deutschpunk- Oldies wie Pöbel & Gesocks bewundern. „Wir haben vieles, was sich zur Rarität gelagert hat“, sagt Neumann grinsend. Aber: „Die Margen, die man mit Tonträgern erzielen kann, reichen nicht zum Überleben.“ Daher auch Regale und Stangen voll Mode und Merchandise. Warum überhaupt noch Tonträger verkaufen? Neumann betont den einzigartigen Albumcharakter: „Man hat ein in sich geschlossenes Werk. Da ist auch der Aufbau und die Songabfolge wichtig. Dazu die Covergraphik. Wenn man Musik als Kunst begreift, ist die LP das ultimative Kunstwerk.“
Wiesbaden
CD-Depot, Gneisenaustr. 2
„Ich habe den ältesten Laden im Westend“, sagt Jürgen Banik. „Alle, die hier waren, als ich angefangen habe, sind weg.“ Sein Schaufenster wird von David Bowies „Heroes“- Album und einer Topfpflanze gesäumt, an den Wänden alte Filmplakate, Comic-Graphiken und Coca Cola-Werbeartikel. Angefangen hat Banik 1987. Im Laden stehen etwa 2.500 CDs, ein Vielfaches davon im Lager. Schallplatten gibt es auch, aber deutlich weniger. „Viele Leute sind aktuell wieder fasziniert von Vinyl“, räsoniert der Betreiber. „Aber man muss das nötige Equipment haben, um ein klangliches Optimum rauszuholen. CDs werden sich ewig verkaufen lassen. Im Vergleich zu datenreduzierten MP3s ist die Wiedergabequalität viel besser.“ Sein Sortiment reicht von Pop / Rock über Hard & Heavy bis zu Country / Western – alles Second Hand. Banik verkauft auch online, stellt aber klar: „Ein Second Hand- Laden lebt davon, dass man sich vom Angebot inspirieren lässt.“ Und: „Bei Amazon kannst du nicht mit dem Verkäufer ein Schwätzchen halten.“
Saturn, Kirchgasse 6 & Bahnhofsplatz 3
Zwei Filialen betreibt Saturn in Wiesbaden. Für Musikliebhaber vielleicht nicht die erste Adresse, mit Carsten Nienaber ist aber ein echter Kenner für die Tonträger zuständig. Im Luisenforum wacht er im 3. Stock über 10.000 CDs. Ein Stockwerk tiefer thronen 1.200 Schallplatten zwischen HiFi-Systemen und Bassboxen. Im Lilien-Carré ist das Angebot kleiner, den Häusern gemein ist der steril ausgeleuchtete Kaufhaus- Charme mit silbernen Rohren unter hohen Decken.
In den Regalen steht ausschließlich Neuware. „Second Hand gibt das Firmenkonzept nicht her“, sagt Nienaber, der seit 1997 Musik verkauft. „Die ganz Jungen“, beobachtet er, „vor allem das Hip- Hop-Publikum, wollen wieder Tonträger. Die Generation 30+ sowieso. Die 20- bis 30-Jährigen, das ist die Generation Download.“ Zwar bietet Saturn mit „Juke“ ein Streaming- Portal, für Nienaber ist die Frage des Mediums aber vor allem „eine Qualitätssache. Es gibt nichts, was besser klingt als Vinyl. Dazu ist es eine Frage der Fairness: Wenn du Musik streamst, zahlst du zwar, aber bei den Erlösen bleiben kleine Bands auf der Strecke.“
Schallplatten-Antiquariat, Mauergasse 15
In Manfred Eiseles Reich hängt der Himmel voller Musik. Von der Decke seines Ladens baumelt ein komplettes Schlagzeug, dazu etliche Schallplatten. Seit 1993 betreibt er das Antiquariat mit seiner Frau. Vor Kurzem ist er 75 geworden, aber man sieht es ihm nicht an – vielleicht hält Musik tatsächlich jung. Jedenfalls hat der „Herr über 28.000 Platten“ den Mietvertrag für seinen Laden kürzlich um zwei Jahre verlängert. Da es hier fast alles gibt – von französischen Chansons bis zu Literatur- Aufnahmen – fällt tatsächlich die Frage leichter, was es nicht gibt: „Alles, was leicht und seicht ist und ganz neue Musik. Alles bis 1979 ist okay.“ Ausnahmen bilden Kult- Bands wie AC/DC oder Nirvana. Derweil kommen ständig Menschen herein, die erklären: „Wir wollen uns nur mal umschauen.“ Nicht wenige kommen einmal pro Woche, wenn nicht täglich. Was sie verbindet? „Eine gute Platte aufzulegen ist eine Zeremonie“, sagt Eisele. „So ähnlich, wie wenn man einen Chateau Lafite entkorkt.“
Fazit:
Regalreihen mit Schallplatten und CDs durchzuflippen, immer wieder innezuhalten, Cover, Gestaltung und Aufmachung zu würdigen, ist ein sinnlicher Genuss. Man sollte ihn wahrnehmen, solange sich die Gelegenheit noch bietet.