von Ejo Eckerle und Stephan Dinges (Fotos):
Glück haben und anderen Menschen Glück bringen, für Hans-Wilhelm Kuhnt (66) trifft beides zu. An einem grauen Herbstmorgen ist er mit dem „Glücksbringer“ unterwegs, ein weißer Ford Transit; gemeinsam mit Wolfgang Sieber (69) sammelt er das ein, was unsere Überfluss-Gesellschaft aussortiert hat: übriggebliebenes Gemüse, Brot, Käse- und Wurstwaren, Äpfel, Bananen und vieles mehr. Dazu steuern sie die Laderampen von knapp einem Dutzend Supermärkten im Lauf des Vormittags an. Sieber und Kuhnt sind ehrenamtliche Helfer der Mainzer Tafel. Der Verein hat 360 Mitglieder und beschreibt seine Aufgabe so: „Nicht mehr benötigte, aber noch geeignete Lebensmittel oder andere Gegenstände des unmittelbaren persönlichen Gebrauchs sammeln und an bedürftige Menschen weitergeben.“
Ehrenamtliches Zurückgeben
Sieber und Kuhnt, zwei wohlversorgte Ruheständler, könnten sich einen ruhigen Lebensabend gönnen. Doch der ehemalige Sendeleiter und der Ex-Steuerberater haben sich eine Aufgabe vorgenommen und ziehen die mit gelassener Routine durch. Beim Gang durch den noch fast menschenleeren Hechtsheimer REWE-Markt erklärt Kuhnt, was ihn antreibt: „Ich habe sehr viel Glück gehabt in meinem Leben und möchte einfach etwas davon zurückgeben.“ Während wir auf den Marktleiter warten setzt er hinzu: „Und man lernt dabei die Menschen kennen.“
Jetzt gilt es erst einmal die TAFELSpende eines REWE-Marktes in Empfang zu nehmen: Randvoll gefüllte Kisten mit Äpfeln und Gemüse stehen vor uns. „Gute Ware“, murmelt Kuhnt. Obwohl er erst seit einem Jahr als „Sammler“ dabei ist, erkennt er auf den ersten Blick, was taugt und was nicht. Jeder Apfel wird in die Hand genommen und überprüft, danach in eine der Plastikboxen gegeben, die im Laderaum des Transporters bereitstehen.
Jährlich landen in Deutschland 18 Mio. Tonnen Lebensmittel auf dem Müll. Einige Kilo davon retten Sieber und Kuhnt heute. Was auf den ersten Blick wie ein großherziges Geschenk aussieht, ist es nicht immer: „Manchmal müssen wir doch schon einiges davon wegwerfen, wenn die Ware angefault ist“, sagt sein Kollege Wolfgang Sieber.
Hilfe für Bedürftige
Die Geschichte der Tafel beginnt 1993 in Berlin. Einige Frauen hatten sich nach einem Vortrag der damaligen Sozialsenatorin Ingrid Stahmer zusammengefunden. Sie wollen etwas gegen die wachsende Not der Obdachlosen tun. Ein Mitglied der Gruppe, frisch aus den USA zurückgekehrt, stellte das Konzept der „New Yorker City Harvest“ vor: ehrenamtliche Helfer, die überschüssige Lebensmittel in den Supermärkten einsammeln und an Bedürftige verteilen. Von Berlin aus verbreitet sich die Idee in ganz Deutschland. Inzwischen sind im Bundesverband Tafel e.V. 900 Initiativen organisiert, 60.000 Menschen spenden ihre Freizeit und stecken ihr Know-how in das caritative Projekt.
Letztlich zeugt die Erfolgsgeschichte der Tafeln in den vergangenen zwei Jahrzehnten jedoch von einem bitteren Befund: die wachsende, oft versteckte Armut in Deutschland. Während die Hilfsidee ursprünglich Obdachlosen galt, kommen heute mehr als die Hälfte der „Kunden“ aus Hartz IV, der Anteil der Kinder und Jugendlichen sowie der Rentner liegt jeweils bei 23 Prozent und steigt. Wohnsitzlose machen nur noch knapp zwei Prozent aus.
Nehmen, wie es kommt
Sieber und Kuhnt erleben auf ihrer Tour immer wieder Überraschendes. Einmal mault sie ein Straßenarbeiter an, während sie gerade ihren Transporter beladen: Er müsse schließlich für sein Geld arbeiten, während sie sich hier kostenlos bedienten. Die Fahrt geht weiter nach Ebersheim. Der kleine Hofladen, der sonst immer eine sichere Bank für gutes Gemüse ist, kann an diesem Tag nur eine kleine Kiste abgeben: darin finden sich zwei große Bündel Petersilie, zwei Kohlköpfe und ein paar Tomaten, zwei Avocados.
Nächste Station: Ein großer Markt, in dem sich Gastronomen mit ihrem täglichen Bedarf eindecken. Hier warten vor allem Milchprodukte und eine große Kiste mit Wurst- und Fleischwaren auf die Männer. Der Empfang ist freundlich, man kennt und schätzt sich. Und Kuhnt freut sich über das Angebot, vor allem aber auch darüber, dass nichts davon in den Müllcontainer wandern muss. Die Arbeit der beiden Sammler ist ein stetiges Auspacken, Einpacken, Kisten Ausräumen und Stapeln.
So wird jedes Lebensmittel vier- bis fünfmal in die Hand genommen, bis es beim Kunden landet. Eine körperlich fordernde Arbeit, die etwas Fitness voraussetzt. Die meisten Helfer sind wie Sieber und Kuhnt im Rentenalter. Jüngere Menschen finden sich kaum für eine längerfristige Mitarbeit, denn das Hauptgeschäft findet tagsüber und unter der Woche statt.
Lange Wartelisten
Die Mainzer TAFEL hat ihren Sitz im Bleichenviertel. In dem Ladengeschäft in der Heidelbergerfaßgasse wurden früher einmal Lampen verkauft. Heute landen hier jede Woche an die acht Tonnen Lebensmittel. Bis zu 2.000 Menschen versorgen sich mit dem, was sie für ihr tägliches Dasein brauchen. Seit 2010 ist Adolf Reuter der Vorsitzende des Vereins. Der umtriebige ehemalige Ministerialbeamte und SPD-Lokalpolitiker ist gut vernetzt. Seine Kontakte zu Institutionen und Firmen kommen dem Verein zugute. Das ist auch nötig, denn die Mainzer Tafel ist seit ihrer Gründung im Jahr 2001 zu einem Sozialunternehmen herangewachsen, das jährlich rund 120.000 Euro für seine Arbeit aufwenden muss.
Ein Großteil des Geldes verschlingt die Logistik, aber auch die Miete für den Laden, Versicherungsprämien und Unterhaltkosten für sechs Kühltransporter, die Woche für Woche die Spender anfahren. 50.000 Euro nimmt der Verein im Jahr von seinen Kunden ein. Jeder von ihnen zahlt 1,50 Euro für das, was er sich aus dem Warenangebot aussucht, unabhängig von der Menge. Konfliktfrei ist diese Geschäftsbeziehung nicht immer. Darauf weist ein Aushang hin, der den Tafel-Besuchern die Spielregeln erklärt: „Die Mainzer TAFEL ernährt nicht die Abholer und deren Familien. Sie lindert mit der einmaligen Abgabe pro Woche deren Not. Alle Helfer sind ehrenamtlich tätig und werden nicht bezahlt. Von daher ist allen Helfern mit Respekt und Anerkennung zu begegnen.“ Reuter erklärt: „Zu uns kommen Menschen aus vielen Nationen. Da ist ein gutes zwischenmenschliches Klima wichtig.“
Das gilt auch für die Arbeit der Helfer untereinander. Jeder hat seine festgelegte Aufgabe. Zwei Männer setzen ihre Lesebrillen auf die Nase und kontrollieren die fertig verpackten Lebensmittel auf dem Tisch vor ihnen: Joghurt, Schnittkäse, Wurst. Ihr Blick gilt unter anderem dem so genannten Mindesthaltbarkeitsdatum. Die Endkontrolle gewissermaßen, bevor die Damen an den Verkaufstheken den Gouda & Co. an ihre Kunden ausgeben können: „Wir geben nur Ware aus, die wir auch selber essen würden.“ Am Begehrtesten ist alles, was frisch ist und auch so aussieht.
Die Ansprüche, das merken die Helfer, steigen auch bei der TAFEL-Kundschaft. Doch gerade an diese Lebensmittel kommt die TAFEL immer schwieriger heran. Der Grund liegt im verbesserten Warenwirtschaftssystem der Supermärkte. Die Filialleiter planen ihren Bedarf exakter denn je, da fällt immer weniger Ausschuss an. Zugekauft wird bei der TAFEL grundsätzlich nichts. Ihr Kundenstamm ist daher auf maximal 2.000 Menschen begrenzt. Letzten Sommer kam es sogar zu einem Aufnahmestopp, obwohl jeder Mainzer, der im Besitz eines Sozialausweises ist, berechtigt ist bei der TAFEL Lebensmittel zu holen.
Gegen 14 Uhr leert sich der Laden. Die Schlange der Besucher vor den Theken hat sich aufgelöst. „Jetzt sind wir platt“, sagt Ursula B. Die 76-Jährige ehemalige Geschäftsinhaberin ist seit 11 Jahren dabei. Heute hat sie Aufschnitt in Portionen verpackt. Nun merkt sie das lange Stehen und ständige Bücken. Trotzdem wird sie nächste Woche wieder kommen, um denen zu helfen, denen es am Nötigsten fehlt.