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Gemeinsam stark – Genossenschaften in Mainz

von Ulla Grall und Stephan Dinges (Fotos):

Die Idee der Genossenschaft reicht zurück bis ins Jahr 1847: Friedrich Wilhelm Raiffeisen gründete den ersten Hilfsverein, um die Lage der Bauern in der Zeit der industriellen Revolution zu verbessern. Daraus entstand 1864 der „Heddesdorfer Darlehenskassenverein“, Basis der heutigen „Raiffeisen-Genossenschaften“ und Wiege der genossenschaftlichen Idee. Entstanden sind die ersten Genossenschaften in einer Zeit, als deren Gründer den Staat für überfordert hielten. Manche sind der Meinung, dass dies heute wieder so ist. Nicht „Allein gegen Alle“ oder „Jeder für sich“, sondern „Gemeinsam stark“ lautet die Devise.

Eine Genossenschaft ist da sehr effektiv und kommt daher wieder zu neuer Blüte. Heute ist der „Deutsche Genossenschafts-und Raiffeisenverband e.V.“ (DGRV) die mitgliederstärkste Wirtschaftsorganisation Deutschlands und zählt etwa 8.000 Genossenschaften mit mehr als 22 Millionen Mitgliedern, Tendenz steigend. Im November 2016 wurde die Genossenschaftsidee von der UNESCO in die „Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ aufgenommen. Genossenschaften sind nicht zuletzt Wertegemeinschaften, die Ziele verfolgen, die über reine Wirtschaftsbetriebe hinausgehen. Selbsthilfe, Selbstverantwortung, Demokratie, Gleichheit, Billigkeit und Solidarität spielen eine starke Rolle, auch Ehrlichkeit, Offenheit, Sozialverantwortlichkeit und Interesse an anderen Menschen. Das wirkt auf viele heutzutage wieder reizvoll. Und die folgenden vier Mainzer Genossenschaften mischen hier ganz vorne mit.

Im kleinen, beschaulichen Mainz ist Wohnraum ein knappes Gut. Neben der städtischen Wohnbau-Gesellschaft helfen Genossenschaften mit, das Angebot zu erweitern. Bereits seit 1896 schafft die „Gemeinnützige Wohnstätten-Genossenschaft Mainz eG“ (früher: Bau-und Sparverein) günstigen Wohnraum. Auf den Kauf des ersten Baugrundstücks in der Mombacher Straße folgte 1903 die Stiftung von Adolf Görz und der Bau erster Häuser in der nach ihm benannten Görz-Stiftung. Bis 1937 wurde weiter gebaut. Nach dem Krieg stand aber erst einmal die Wiederherstellung der beschädigten Gebäude an erster Stelle.

Heute verfügt die Genossenschaft über 796 Wohnungen in Mainz und Vororten. Die prägnantesten Objekte sind wohl die „Port Arthur“ genannten Häuser in der Baentschstraße / Mombacher Straße und die erwähnte Görz-Stiftung. Alle beigetretenen Genossen sind aufgefordert „kleinere Mängel selbst abzustellen, da sie doch in gewissem Sinne selbst Hausbesitzer sind und zur Erhaltung der Gebäude dadurch mitbeitragen müssen“. Miteigentum und Mitverantwortung sind bis heute Bestandteil der genossenschaftlichen Idee. In den letzten Jahrzehnten etwas in den Hintergrund gerückt, soll dieser Gedanke seit dem „Zukunftsworkshop“ im November 2016 wieder mehr Tragfähigkeit erlangen.

„Wer Mitglied ist und eine Wohnung bewohnt, bleibt meistens lange“ (Dr. Matthias Grimm, Gemeinnützige Wohnstätten-Genossenschaft Mainz)

Als Mitglied der Genossenschaft erwirbt man nach Zahlung eines kleinen Beitrittsgeldes das Anrecht, sich um eine Wohnung zu bewerben. Über die Aufnahme in die Genossenschaft und Vergabe der Wohnungen entscheidet der fünfköpfige Vorstand. Die Kontrolle üben die neun Mitglieder des Aufsichtsrats aus. Jedes neue Mitglied übernimmt einen Geschäftsanteil von 300 Euro. Bei Einzug in eine der Wohnungen werden weitere Anteile fällig, abhängig von der Zimmerzahl. Zwischen fünfzig und achtzig neue Mitglieder kommen pro Jahr dazu. Die Wartezeit kann also recht lang sein, die Mieten sind günstig, die Fluktuation gering. „Wer Mitglied ist und eine Wohnung bewohnt, bleibt meistens lange“, sagt der Aufsichtsratsvorsitzende Dr. Matthias Grimm und Vorstandsvorsitzende Horst Maus ergänzt: „Manche Genossen melden schon ihre Kinder an.“

In den letzten drei Jahren haben sich die Anteile der Mitglieder deutlich erhöht, berichten die beiden Herren weiter. Die Einlagen werden zudem verzinst: „Wir schütten zwischen zwei und vier Prozent Dividende aus.“ Aber die Genossenschaft ist keine Geldanlage-Organisation. Maximal zehn Anteile können gezeichnet werden, eine Übernahme ist dadurch nicht möglich. „Wir legen Wert darauf, dass das Prinzip der Genossenschaft von allen Mitgliedern getragen wird“, erklärt Maus: „Momentan ist diese Gesellschaftsform sehr im Kommen.“ Neben der Modernisierung des Wohnungsbestands – aktuell werden in der Görz-Stiftung Heizungen mit Fernwärme eingebaut – sind auch neue Bauten angedacht, möglicherweise im Heilig-Kreuz-Komplex.

Gemeinsam Zukunft leben …

Dieser Slogan steht auf der Webseite der jungen, Anfang 2015 gegründeten „synthro-Coop“. Nagelneue Räume, eingefügt in die Backstein-Fassaden der alten Güterhallen hinterm Hauptbahnhof. Hier entsteht das M1-Quartier auf dem ehemaligen Gelände der Bundesbahn, Mieter auf zehn Jahre ist die synthro-Genossenschaft. Rundum ist noch Baustelle, aber die „Coworking M1 GmbH“, die erste Tochter der synthro, steht bereits. Seit Anfang 2016 kann man hier Arbeitsplätze und –räume mieten, in Größe und Zeit den Bedürfnissen angepasst. Die Infrastruktur wird von M1 gestellt, inklusive der Flatrate für Kaffee-und Sprudelwasser.

Das „Co“ in Coworking steht für Zusammenarbeit: „Der offene Austausch untereinander kann oft das eine oder andere Problem schneller lösen als man glaubt“, heißt es auf der Website. Finanz-& Lohnbuchhaltung sowie IT-Service bietet die Genossenschaft ebenfalls. Mehr als zwanzig Coworker nutzen derzeit das Angebot. Außerdem finden regelmäßig Veranstaltungen statt, jeden Dienstag und Donnerstag u. a. Yoga-Sessions, eine bunte Mischung. 18 Gründer hat die synthro-Genossenschaft und die Mitgliederzahl ist „innerhalb von einem Jahr von 17 auf 37 gewachsen“, sagt Vorstandsmitglied Lena Weissweiler.

Einmal pro Woche ist Meeting, jeder Genosse besitzt ein Stimmrecht, egal, wie viele Anteile er hält. „Die Gründungsmitglieder waren schon vorher miteinander verbunden“, erklärt Florian Hupf. „Es sind Personen und Unternehmen mit einer gewissen Geisteshaltung.“ Als „Community-Manager“ und „Synergie-Verwalter“ ist Hupf zuständig für Terminierungen, Pressearbeit und Social Media. „Ich bin sowas wie ein Herbergsvater“ sagt er scherzhaft. Alternative Formen des Wirtschaftens, Nachhaltigkeit und vorsichtiger Umgang mit Ressourcen sind Schlagworte, die häufig fallen. Vorstandsmitglied Thomas Hahner sagt: „Wir wollen innerhalb der Grenzen unseres Wachstums handeln. Wenn wir ein Projekt starten, gehört zu den Aspekten nicht nur der Profit, sondern auch die Frage wie es den Leuten damit geht. Gewinne dienen auch dazu, bereits angerichtete Schäden zu kompensieren.“

synthro plant bereits weitere Projekte, Carsharing ist eines davon, ein anderes das „Essen für Arbeitnehmer“. Felix Blum ist Koch „aus der Sternegastronomie“ und wirkt am Küchenblock im großzügigen Gemeinschaftsraum. Aus seinen Töpfen kommt das Mittagessen für die Coworker und Genossen: „Vegan und Ayurvedisch“. Als synthro-Mitglied gibt er auch Kochkurse. „Nun überlegen wir, wie wir sowas an die Leute in Mainz bringen.“ An Ideen mangelt es nicht, auch wenn noch nicht alles spruchreif ist und manches noch etwas unausgegoren wirken mag. Eines jedenfalls ist fest eingeplant: „Wenn die Bagger weg sind, wird hinter dem Haus ein Garten angelegt.“ Im Sinne der Permakultur soll es dort wachsen und grünen. Die permakulturelle Idee zieht sich durch alle Bereiche von synthro: „Alles ist mit Allem verbunden“, weiß Florian Hupf.

Strom vom Dach

Die nächste Genossenschaft ist mit etwa 170 Mitgliedern eine kleine und erfolgreiche Organisation: Urstrom nennt sie sich, die Mainzer BürgerEnergieGenossenschaft. Ihr Ziel ist nicht „billiger Strom für jeden“, sondern gleich die komplette Energiewende. „Momentan ist Photovoltaik unser stärkstes Standbein“, sagt Gründungsmitglied Christoph Albuschkat. Der Diplom-Geograph ist zuständig für Mitgliederbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit: „Das sind 12 bis 15 Stunden ehrenamtliche Arbeit pro Woche“. Dafür hat er seinen Broterwerbsjob in der internen PR beim „Dachverband der Weltläden“ reduziert.

„Wir wollen Weniger-Reiche nicht ausgrenzen.“ (Christoph Albuschkat, Ursprung)

Urstrom ist Mitglied der „Bürgerwerke eG“, einem Verbund von aktuell 65 Energiegenossenschaften in ganz Deutschland. „Gemeinsam machen wir Energiewende“, haben sich die Genossen auf ihre Fahnen geschrieben. Bei ihrer Gründung 2010 hatten die Urstromer neun Mitglieder „und jede Menge Interessenten“, so Albuschkat. „In den letzten Monaten hat sich die Mitgliederzahl mehr als verdoppelt.“ Geleitet wird Urstrom durch den Vorstand  aus drei Personen, dem sechs Mitglieder des Aufsichtsrats zur Seite stehen. Einmal im Jahr tagt die Generalversammlung. „Jedes Mitglied hat eine Stimme, unabhängig von der Summe seiner Anteile.“ (Ein Genossenschaftsanteil beträgt 250 Euro.) „Wir wollen Weniger-Reiche nicht ausgrenzen.“

Die Rendite, die Urstrom ausschüttet, liegt bei zwei Prozent zuzüglich Dividende. „Aber es sind die Allerwenigsten, die drauf aus sind, damit Geld zu verdienen.“ Die meisten neuen Genossen kommen durch Mundpropaganda. „Außerdem machen wir jedes Jahr mit beim „Sonnenmarkt“ auf dem Gutenbergplatz und sind auf der Rheinland-Pfalz-Ausstellung vertreten“. Strombezug bei Urstrom ist bundesweit möglich. „Bis jetzt haben wir mit unseren neun Photovoltaikanlagen in und um Mainz eine Gesamtleistung von etwa 410 Kilowatt Peak erzielt.“ Diese Anlagen, teils auf kommunalen Dächern, teils auf Hallen privater Gewerbetreibender, erzeugen so einen Strombedarf für etwa 80 Haushalte à vier Personen.

Aktuell kommt eine neue Photovoltaik-Anlage auf dem Dach der Firma „Riga“ in der Mombacher Liebigstraße hinzu. Sie soll die Stromproduktion um 25 Prozent erhöhen. Praktisch dabei: Das Equipment der neuen Anlage kann der Spezialist für „Heben, Bewegen und Transportieren“ selbst aufs Dach hieven. Auch die Finanzierung konnte ohne Kredit über Anteile der Mitglieder bewältigt werden. „Bisher hatten wir immer mehr Angebote als Finanzbedarf“, weiß Albuschkat. „Das Problem ist nicht das Geld, sondern die passenden Objekte zu finden.“ Die Standorte der bestehenden acht Anlagen sind auf der Webseite einsehbar. „Die Anleger wollen mit ihrem Geld etwas Sinnvolles tun.“

Ein Windrad wäre jedoch nicht so einfach zu finanzieren: „Da ist man schnell bei fünf Millionen. Für uns als kleine Genossenschaft ist das kaum erreichbar. Also beschränkt Urstrom sich auf das Machbare. Bei Elektrofahrrädern kooperiert die Genossenschaft mit Mainzer Fahrradläden: „Wenn einer unserer Stromkunden ein Elektrofahrrad kauft, erhält er von uns Strom für 10.000 Kilometer.“ Angedacht ist auch Elektroauto-Sharing, u.a. in Zusammenarbeit mit der synthro-Genossenschaft: „Die haben auch schon E-Autos“.

Mit Genossen durch die fünfte Jahreszeit

Eine neue Idee auf dem Sektor des Genossenschaftswesens verfolgt die Mainzer Fastnacht Genossenschaft. Nicht Einzelmitglieder oder Firmen, sondern 24 Mainzer Vereine und Garden sind Mitglied der Vereinigung. Im November 2015 gegründet, wurde sie im Februar 2016 vom Deutschen Genossenschafts-und Raiffeisenverband prompt zur Genossenschaft des Monats gewählt. Im Vorstand sitzen Horst Seitz, Präsident des Mainzer Carneval Club MCC, Heinz Tronser von der Garde der Prinzessin und Prof. Dr. Dr. Reinhard Urban, Präsident des Mainzer Carneval Verein (MCV). Den Vorstandsvorsitz hat Stadionsprecher Klaus Hafner, Präsident des CCW (Carneval Club Weisenau) inne. Seine Stellvertreterin ist Dr. Gabriele Ackermann, Präsidentin der Roten Husaren Mainz-Kostheim. Also alles gestandene Narren.

Michael Bonewitz, Pressesprecher der Genossenschaft und ebenfalls Aufsichtsratsmitglied erläutert die Ideen, die hinter der Gründung stehen: Verantwortung und finanzielle Risiken beim Rosenmontagszug, bisher allein beim MCV (Mainzer Carnevals Verein) gelegen, können nun auf mehr Schultern verteilt werden. Nicht nur, dass, wie bei einer klassischen Einkaufsgenossenschaft der gemeinsame Einkauf von Wurfmaterial für die einzelnen Zugteilnehmer günstiger wird, auch die Produktion von Orden, Gardeuniformen und Dekomaterial für die Sitzungen werden erschwinglicher.

Neben Risikominimierung und finanziellen Vorteilen liegt vor allem „die Weiterentwicklung der Fastnacht“ den närrischen Genossen am Herzen. Hier gibt es bereits zahlreiche Ideen, von „mehr Tribünen, vielleicht mit Kinderbetreuung und Seniorenarealen“ zu „Kostümbällen, die von einem einzelnen Verein nicht zu stemmen sind“. Die Frage lautet: „Wie kann man den Begriff „Mainzer Fastnacht“ und das fastnachtliche Brauchtum weiter voranbringen?“ Der Prozess ist angestoßen. „Man bewegt sich im Spagat zwischen Tradition und Moderne“, sagt Bonewitz.

Zahlreiche Argumente sprechen also für Genossenschaften. Eines davon ist auch, dass es die Rechtsform mit den wenigsten Insolvenzen ist. Letzten Endes kommt es aber wie überall drauf an, was die Genossen draus machen.