Regine K. öffnet die Tür zu ihrer Wohnung, in die sie vor wenigen Monaten eingezogen ist. Der Blick fällt über den Flur auf eine Staffelei in Nähe des Balkons, auf der ein fast fertiges Gemälde steht. Es zeigt einen Leuchtturm, dahinter Sand, davor Meer und am Himmel ein paar kleine Wölkchen. „Die maritimen Motive haben es mir momentan besonders angetan“, sagt Regine K., die gerade mit ihrem Enkel von einem Urlaub an der Küste zurückgekommen ist. Für die Malerei habe sie sich schon immer interessiert, jetzt, im Ruhestand hat sie nun auch endlich mehr Zeit dafür. Die Leidenschaft für die Kunst mehr in den Mittelpunkt zu stellen, ist nur eine der neuen Angelegenheiten in ihrem Leben.
Queeres Wohnprojekt
Die neue Wohnung war auch mit einem Stadtwechsel verbunden. „Ursprünglich komme ich aus Berlin. Dort habe ich im Sozialamt gearbeitet. Für mich war irgendwann klar, dass ich nach dem Berufsleben nach Mainz ziehen möchte.“ Auch deshalb, weil Regines Tochter bereits seit zehn Jahren in der Stadt lebt und sie öfters Gelegenheit hatte, Umgebung und Menschen näher kennenzulernen. Eine Klientin erzählte ihr, dass es spezielle Wohnprojekte für homosexuelle Menschen gäbe. Regine informierte sich und stieß zunächst auf die beiden Wohnalternativen „VIS-a-VIS“ (Martin-Luther-King-Park) und „statt- Villa“ (Hartenbergpark): „Zwei tolle Projekte, die mich schnell auf das Projekt ‚Queer im Quartier‘ aufmerksam machten.“ Heute ist nicht nur der Verein ihre neue Heimat, sondern auch das Wohnmodell, das die Mitglieder zusammen mit der Wohnbau verwirklicht haben. „Die Idee ist vier Jahre alt“, erklärt Joachim Schulte von „Queer im Quartier“. In der „Bar jeder Sicht“ saß anfangs eine zehnköpfige Gruppe zusammen, die über ein queeres Wohnprojekt diskutierte. Der Plan nahm Konturen an, es folgten auch Treffen außerhalb der Bar. Im Vordergrund stand die Frage, welche Vorstellungen die Gruppe an ein Leben in einer Gemeinschaft hat. Im Jahr 2017 gründete sich dann der Verein und begab sich auf die Suche nach einer geeigneten Immobilie. „Am Anfang war alles offen. Sollen wir bauen? Gründen wir eine Genossenschaft? Ziemlich schnell sind wir dann jedoch zu dem Ergebnis gekommen, dass wir lieber mieten möchten, ähnlich wie nach dem Vorbild ‚VISa- VIS‘, das wir toll finden“, sagt Bewohnerin Andrea Acker.
Mit offenen Armen empfangen
Von den 61 Wohnungen, die die Wohnbau in der Wallaustraße Nördliche Neustadt gebaut hat, sind 22 Einheiten nun von „Queer im Quartier“ angemietet. 34 Prozent der Wohnungen sind öffentlich gefördert. „Alle gesellschaftlichen Schichten sollen die Möglichkeit haben, hier leben zu können“, so Pressesprecherin Claudia Giese. Die Einheiten verteilen sich auf drei Gebäude. Von der kompakten Zwei- bis zur großzügigen Vierzimmerwohnung ist in den modernen Häusern alles dabei. In der Nachbarschaft leben schwule, lesbische, Transgender und heterosexuelle Personen, darunter Singles, Paare und Familien. „Wir sind bei der Suche an die Wohnbau herangetreten und wussten nicht, ob ‚queer‘ vielleicht sogar ein Hinderungsgrund sein könnte. Nach dem ersten Vorfühlen wurden wir allerdings sehr schnell mit offenen Armen empfangen“, so Schulte. „Für uns sind Wohnprojekte wie dieses eine tolle Sache. Wir kennen uns im Vorfeld. „Das sorgt für Stabilität im Austausch und in der Nachbarschaft“, sagt Claudia Giese. Aufklärungsarbeit muss der Verein dennoch hin und wieder leisten. Joachim Schulte erinnert sich an eine Veranstaltung während des Kommunalwahlkampfs. „Ein Besucher stand auf und beklagte sich darüber, dass die Wohnbau nun wohl Schwule und Lesben bevorteile. Glücklicherweise war ich selbst vor Ort und konnte das Projekt erklären.“ Die sexuelle Orientierung ist nicht ausschlaggebend, um den Zuschlag für eine Wohnung zu bekommen. Die Mitglieder haben ein Alter von 30 bis beinahe 70 Jahre, der weibliche Anteil liegt etwas höher als der männliche. Seit einigen Monaten leben sie nun schon zusammen. Einziger Wermutstropfen ist derzeit Corona. „Wir sind dabei, uns noch besser kennenzulernen und müssen nun mit einer gewissen Euphorie- Bremse leben“, so Susanne Becke.
Kulturelle Vielfalt bis ins hohe Alter leben
Dass das Modell dennoch gut gestartet ist, zeigen kleine Begebenheiten. So hat etwa die gelernte Bauzeichnerin Anette Blum für Nachbarin Regine K. auf den Millimeter genau den Plan für ihre neue Küchen ausgemessen. „Da hat dann wirklich alles gestimmt, und ich konnte die Küche sogar selbst einbauen“, so Regine. Treffen werden aktuell mit nicht mehr als zehn Personen in der Gemeinschaftswohnung veranstaltet. Im obersten Stockwerk verfügen die Bewohner über eine große Dachterrasse und ein Gästezimmer. Dort starten demnächst auch die Arbeitsgemeinschaften: Kochen, Backen, Politik und Gärtnern stehen auf dem Plan – nichts davon verpflichtend. Die gegenüberliegende ehemalige Kommissbrotbäckerei ist seit einiger Zeit auch im Besitz der Wohnbau und soll teilweise zu einem Zentrum für Kunst und Kultur werden. Eine Kita gibt es dort bereits und durch den Einzug des Familienzentrums „Zuhause in Mainz“ wird nach dem „Bielefelder Modell“ auch das Älterwerden und Wohnen inmitten der Stadt immer attraktiver. Das wertet das Areal und die gesamte nördliche Neustadt weiter auf. Sogar ein eigener Platz ist für das gesamte Quartier angedacht. „Mein Ziel ist es jedenfalls, so lange wie möglich zu bleiben“, freut sich Anette Blum über die neu eröffneten Chancen.
Text Alexander Weiß Fotos Stephan Dinges