Schon ein paar Jährchen ist es her, dass wir einen Rundumschlag in der Szene der zeitgenössischen Kunst in Mainz gewagt haben. Mittlerweile hat sich wieder viel getan: Neue Ateliers, Galerien und Menschen entern das Parkett. Auch wenn Mainz nicht als Kunst-Metropole gilt, haben sich doch viele Künstler hier auch niedergelassen. Gerade in dieser Zeit hat man Zeit für Gespräche, für neue Aktivitäten, Corona fest im Blick und vor allem: man blickt in Ruhe zurück und wagt einen kreativen Blick in die Zukunft.
Galerien und neue Hotspots
Die neueste Galerie hat gerade erst als Wohnzimmer-Galerie in Mainz-Hechtsheim eröffnet. Bis zum März dieses Jahres dachten sie noch, sie bleiben in Barcelona und arbeiten dort kreativ: Autodesigner Markus Haub und Psychologin Susana de Val, die für Ärzte ohne Grenzen weltweit unterwegs war. Nun sind sie nach Hechtsheim gekommen als „GalerieH49“ im Hechenberg 49. Die beiden wollen die Räume des Elternhauses und den Garten neu beleben und in einen Ort der Begegnung für Familie, Freunde und Besucher verwandeln. Ob Kunstharz-Bilder oder die Kreationen der inzwischen über tausend Werke umfassenden „Racing-Legends“ Serie, vieles ist hier möglich, vor allem Fotografie, Design, Gastronomie, Musik und Performance.
Thilo Weckmüller ist eine weitere bekannte Künstler-Person in Mainz. Er braucht sich um Kontakte nicht zu sorgen. Durch die Werkstatt „uah!“ in der Hinteren Bleiche kennen ihn viele, allein den Künstler und Maler gilt es noch mehr zu entdecken. Auch Weckmüller war durch Corona gezwungen, seine Kunst neu zu verorten. Eine Idee zur richtigen Zeit und eine Baugesellschaft (Mainzer Aufbau Gesellschaft) haben ihm einen Raum im Allianzhaus auf der Großen Bleiche zur Verfügung gestellt. Hier gründete Thilo eine Art „Vitrinen-Galerie“, in der er auf Dauer mehrere Künstler zeitgleich ausstellt. Betrachtet wird die Kunst von außen. Im September waren es seine eigenen Gemälde, Michael Dörr zeigt Matrosen und Meeres-Fotografien und Pierre Yves Hauck Skulpturen aus der Tierwelt. Ab dem 4. Oktober ist die neue Ausstellung „Kulturlandschaften“ zu bewundern, u.a. mit Erik Porstmann und Pia Schelenz.
Über noch mehr Kontakte und ohne Schicksalsschlag eröffnet die Event-Managerin und Künstlerin Christiane Schauder ihre „Zweitstelle“ am alten Karstadt in der Fuststraße. Baulöwe Gemünden aus Ingelheim hat ihr den Laden angeboten, bis der Umbau um das Karstadt-Areal beginnt. Schauder betrachtet die Zukunft der Mainzer Kunstszene, auch in Corona, als „breit gestreut: viele Talente und Kollegen, die es zu zeigen gilt. Hinzu kommen Lesungen, Konzerte, Videos und Gespräche zur Kunst.
Und auch die Neustadt ist um eine Attraktion reicher. Die promovierte Kunsthistorikerin, Autorin und gelernte Fotografin Annette Emde hat in der Richard-Wagner-Straße 13 Ende Juni die „Emde Gallery“ für zeitgenössische Kunst eröffnet. Wie schon der Name verspricht, „vertritt die Galerie lokale und internationale Künstler“, so die Galeristin, „Künstler, die in unterschiedlichen Medien arbeiten, die sich in ihren Arbeiten mit wichtigen Fragen der Gegenwart auseinandersetzen und Einblicke in aktuelle Kunstdiskurse geben.“ Doch Corona-bedingt galt es zunächst, einiges neu zu denken und zu entscheiden: angefangen bei den Umbauarbeiten über die Auswahl der Künstler für die Gruppenausstellung zum Auftakt bis hin zur Verschiebung der ursprünglich im Mai geplanten Eröffnung. Diese ersten Hürden hat Annette Emde bereits geschafft. Vom 17. Oktober bis 28. November läuft die bereits dritte Ausstellung mit dem in Hamburg lebenden Künstler und Büttner-Schüler Wolfgang Günther, dessen Arbeiten zuletzt auf dem Futur 3-Festival in Kiel zu sehen waren, eine neue Werkreihe, in denen sich figurative Szenen mit abstrakten Kompositionen verbinden.
Ein Inhaber-Wechsel dagegen in der Altstadt: Schon vor mehr als einem Jahr, als klar war, dass Rolf Weber-Schmidt die „Galerie Mainzer Kunst“ nicht mehr halten konnte, bekam er einen Nachfolger von unerwarteter Seite. Der Mainzer Mediziner Prof. Dr. Christian Vahl und seine Frau Susanne übernahmen die Räumlichkeiten im Weihergarten und stellten den Namen auf „Mainzer Kunst Galerie“ um. Beide dürfen keine Nebeneinnahmen verbuchen. Daher führen sie keine Galerie, sondern unterstützen die Kunst sozusagen als Mäzenaten. Regelmäßig finden dort dennoch hochkarätige Ausstellungen statt. Zudem verleiht Vahl jährlich den Mainzer Medienpreis, der in diesem Jahr an die Mainzer Hofsänger gegangen ist. Was nicht viele wissen: Christian Vahl hat auch Kunstgeschichte studiert und er und seine Frau sind Kunstsammler. Die Künstler haben im Weihergarten freie Hand, das Ehepaar Vahl schaut aber darauf, dass der Kunstraum eine individuelle Sprache spricht. „In der Mainzer Kunstszene schlummert ein ungeheures Potential an hervorragender zeitgenössischer Kunst,“ so Vahl. „Deshalb freuen wir uns, dass wir durch die Kooperation mit der Stadt und der Kunsthochschule Zugriff darauf haben und den Künstlern in die Welt hinaus helfen können.“
Einen Namen in der Welt über die Mainzer Grenzen hinaus hat bereits Galeristin Dorothea van der Koelen. Schon mit 18, noch vor dem Abitur, hat sie im Elternhaus in Bretzenheim eine eigene Galerie eröffnet. Angeregt wurde sie dabei durch ihre Mutter Lore Bert, die heute zu den bekannten Künstlerinnen, vor allem im arabischen Raum, zählt und ihren Vater, der Architekt war. In 40 Jahren erschuf van der Koelen so ein unfassbares Universum aus einem Verlag, einer zweiten Galerie in Venedig und dem „Cadoro“ in Mainz-Hechtsheim: über 2.000 qm Kultur, Wissenschaft, Stiftung, Ausbildungsstätte und Event-Räumlichkeiten finden sich hier. Daneben nimmt sie an allen wichtigen Messen auf der Welt teil, von der Art Cologne bis zur Art Dubai. Nur mit Corona war alles vorbei. Allein ihrem Einfallsreichtum hat sie es zu verdanken, dass der „Laden“ läuft. Zu ihrem alljährlichen Sommerfest präsentierte sie den international bekannten chinesischen Künstler Guang Yao Wu und brachte zudem eine Corona-Edition heraus. Die Mainzerin hat wenig Einblicke in die Mainzer Kunstszene, wie sie selbst sagt. „Doch jetzt hat manmich in den Kunstbeirat der Stadt und in das Auswahlgremium für den Mainzer Medienpreis berufen. Das nehme ich sehr ernst, denn Mainz, blickt man in die Geschichte, ist eine Stadt mit hohem Potenzial an Kultur. Man muss weg allein vom Image Fastnacht, MainzO5 und Schoppen.“
Was sagt die Politik?
Marianne Grosse (SPD) ist seit ihrem Amtsantritt vor zehn Jahren zweigleisig unterwegs. Sie betreut sowohl das Bauwesen als auch die Kultur. Und es scheint jetzt nach 10 Jahren so, als wäre die Kultur, die Kunstszene und ihre Entwicklung ihre Herzensangelegenheit. In ihrem Büro auf der Zitadelle umgibt sie sich mit Kunst von Mainzer Künstlern. „Durch Corona“, sagt sie, „sind wir zuerst in eine Schockstarre gefallen. Das einzige, was weiter lief, war gefühlt das Bauvorhaben Zollhafen. Es dauerte nicht lange und die ersten Künstler baten die Stadt um finanzielle Unterstützung. Trotz der Pleite, die Mainz immanent ist, aber keineswegs sexy macht, hat man großzügige Beträge auch für Ankäufe bereitgestellt. „Für viele war das mehr als der Tropfen auf dem heißen Stein,“ so Grosse. „Wir haben dadurch auch neue Künstler kennengelernt und in unsere Sammlung aufgenommen.“ Viele gute Gespräche habe sie geführt, berichtet sie weiter, und Empfehlungen ausgesprochen, wie man an andere Geldquellen kommt.
Eine seit Jahren existierende Förderung der Stadt ist die Bereitstellung von subventionierten Ateliers in der Mombacher Waggonfabrik. 2019 sind hier zehn Ateliers frei geworden, die neu besetzt wurden, zum ersten Mal nach neuen Regeln, wobei die Nutzung auf fünf statt zehn Jahre gekürzt wurde. „Ich sehe die Zukunft der Mainzer Kunstszene, die sich durch ein Zusammenspiel aus vielen Kreativen ergibt, als sehr vielversprechend. Das kommt auch und vor allem durch die Arbeit der Mainzer Kunsthochschule. Man nehme nur mal die Aktion des Sockelalarms am Rathaus. Oder die Kooperationen mit der Mainzer Kunst Galerie.“
Doch was trägt die Stadt eigentlich dazu bei, dass sich die zeitgenössische Kunst in Räumen der Stadt präsentieren kann? „Die Situation,“ so Grosse, sei „im Augenblick für alle unbefriedigend“. Das Foyer im Rathaus ist weggebrochen. Ersatz zu finden sei schwer, denn geeignete Räume gäbe es einfach nicht. Ein kleiner Ersatz ist das Foyer vor Büros im neuen Bürgerhaus auf der Großen Bleiche. Die erste Fotoausstellung von Christian Peter mit dem Titel „empty cities“ lief an. Doch hier muss man erst einmal hinkommen. Mehr etwas für die „Offiziellen“.
Kunsthochschule. Kunsthalle. Und ein Kunstverein
Im Mai 2017 trat Dr. Martin Henatsch seine Stelle als Rektor der Mainzer Kunsthochschule an. Damit kam zum ersten Mal der Rektor von außerhalb. Der Kunstwissenschaftler und Ausstellungsmacher hat jahrelang mit Manfred Schneckenburger in der Leitung der Kunstakademie Münster zusammengearbeitet. Martin Henatsch fackelte nicht lange, um sein Ziel anzugehen: die Arbeit der Studenten und Professoren in die Köpfe der Mainzer zu bringen. Nach noch nicht einmal drei Jahren hat er es geschafft. Die Vorträge von hochkarätigen Ausstellungsmachern, Galeristen, Professoren anderer Universitäten, Künstlern sind feste Termine bei vielen Mainzern. In der Hochschule werden zudem ein Atelier und Ausstellungsraum von Studenten kuratiert. Die Jahresrundgänge mit den Abschlussarbeiten erreichen zwar noch keine 40.000 Menschen wie in Düsseldorf, aber vermehrt kommen auch Galeristen neben Mainzern und suchen nach Talenten. Die Malerei-Klasse ist in die Boppstraße gezogen und erweitert so das Spektrum. Die „apotheke“ zog in der großen Langgasse ein Stück weiter die Straße hinauf und bekam kürzlich die „orangerei“ dazu, ein Raum für Kunstpädagogik. Auf dem Campus der Hochschule ist ein Ausstellungskubus aufgebaut, der von Studenten verwaltet wird und ein Stück weit runter in der Binger Straße findet sich „The Box“, wo Professorin Parastou Farouhar weitere Ausstellungen der Malerklasse ausrichtet. Dazu noch die Kooperation mit der Mainzer Kunst Galerie und mit der Kunsthalle, wo der Kunstnachwuchs lernt, welche Ansprüche im Namen Kunsthalle stecken.
Diese Ansprüche der Kunsthalle erfüllt Stefanie Böttcher, die am 1. Juni 2015 von Bremen nach Mainz kam. Ihr Anspruch: „Für mich steht fest, dass ich für Mainz Ausstellungen internationaler Nachwuchskünstler mit denen etablierter, in Deutschland jedoch unterrepräsentierter Künstler entwickele. Ich möchte dem lokalen und überregionalen Publikum zeigen, dass zeitgenössische Künstler Fragen, Befunde und Probleme unserer Gegenwart aufgreifen. Dafür benötigt man manchmal Übersetzer – aber dafür sind wir schließlich da. Und noch etwas ist mir wichtig: ein Teil der wachsenden hiesigen Kunstszene zu sein und im steten Austausch mit ihren Akteuren zu stehen.“ Daher hat sie die Mainzer Kunstszene fest im Blickfeld und taucht auf, wenn eröffnet, gelesen, performed oder musiziert wird. Sie sieht ebenfalls großes Potenzial in der Hochschule und den Ateliers der Waggonfabrik.
Eins der schönsten Häuser in Mainz bespielt jedoch der Kunstverein Eisenturm. Der alte Wehrturm gegenüber der Rheingoldhalle bietet drei mittelgroße Ausstellungsräume in die der erste Vorsitzende, der Künstler Dietmar Gross aus Dienheim, mit wechselnden Kuratoren aus dem Vorstand, Künstler aus ganz Deutschland einlädt. Formate wie „kunsthoch3“ zeigen auch Kunst der eigenen Mitglieder: „Zu Beginn meiner Tätigkeit hatte ich meine Bedenken, weil ich als Künstler durch den Posten auch Vorteile hätte.“ Doch mehr interessiert er sich für die Kunst der Bewerber oder die aus Empfehlungen. Und Gross hat mit dem „Eisenturmpreis“ eine renommierte Anerkennung geschaffen, finanziell gestützt durch die Mainzer Volksbank. Für ihn ist die Kunstszene das rheinhessische „Tischlein Deck Dich“, das sich immer wieder mit Talent und Können füllt. Vom 16. Oktober bis 15. November läuft die Ausstellung von Jorge Villalba (Malerei), bei der Gross selbst kuratiert. Die Einführung zur Vernissage hält die Kunsthistorikerin Miriam Maslowski.
Alternative Kunst
Der Begriff alternative Kunstszene ist in Mainz eher marginal. Vielleicht, wenn man nach Hechtsheim guckt und dort einmal im Jahr in das Bauunternehmen Karrié einlädt. Peter Karrié unterstützt die Kunst in Rheinland-Pfalz seit 2014, indem er sie, ausgewählt durch eine Kuratorin, in seinem großzügigen Bürohaus inklusive Dachterrasse präsentiert. Dabei bezahlt er den Künstlern ein Honorar, die Kosten für Transport und Aufbau und vermittelt sie an Hausbesitzer, für die er gebaut hat und denen noch das I-Tüpfelchen fehlt. Dieses Mäzenatentum ist ein win-win Situation für die Kunst und den Bauunternehmer. Seine Motivation: „Unser Sichtfeld verengt sich mit der Zeit. Wir brauchen Impulse von außen, um unseren Kopf zu öffnen. Für mich ist das die Kunst.” In diesem Jahr bleibt das Haus jedoch geschlossen: „Ich freue mich schon sehr auf 2021.“
Und dann es gibt es in Mainz jene, die sich in kein Kunstkorsett sperren lassen. Das „Peng“ zum Beispiel. Die „Pengler“ sind zumeist notgezwungen Nomaden, ohne feste Bleibe, mit dem Konzept „wo was leer steht, sind wir“. Zurzeit suchen sie nach einem neuen Quartier. Karstadt wird demnächst entmietet sein, Platz gäbe es da und sie wären interessiert.
Auch der Mainzer Kunstverein Walpodenstraße 21 e.V., gegründet 1999 aus einem freien Kulturprojekt, belebt die Mainzer Szene. Seit einem Umzug 2008 in die Neubrunnenstraße 8 wurde aus dem Verein die Walpodenakademie. Hier präsentiert man regelmäßig eigene Entwürfe zeitgenössischer Kunst über Ausstellungen, Performance, Film und Musik mit experimentellem und interdisziplinärem Ansatz. Die Mitglieder betrachten sich als ein offenes Forum für freie künstlerische und kulturelle Arbeit.
Eine Straße weiter in der Heidelbergerfaßgasse 18 befindet sich dann noch das Atelier 9, in dem mehrere Künstler ihre Werke produzieren. Das Atelier befindet sich aktuell in Auflösung und soll verkauft werden. Die Künstler haben sich zusammengetan und suchen einen Investor, um es mit ihnen gemeinsam dennoch weiter als Kulturort zu erhalten. Interessenten können sich gerne melden unter kontakt@atelier-neun.de.
Fazit
Der Mainzer Professor Gerhard Meerwein hat zu seinem 70. Geburtstag seine über 40 Jahre gesammelten Collagen an das Arp Museum Rolandseck verschenkt. Diese wertvolle Sammlung hätten Mainz gut zu Gesicht gestanden. Doch das hat Meerwein nie so gesehen. Für ihn gab es hier keinen geeigneten Ort. Er selbst, der lange Jahr dem Mainzer Kunstbeirat der Stadt angehörte und als Architekturstudent eine Galerie in der Altstadt besaß, sagte dem sensor 2013 zur Situation der Mainzer Kunst: „Es gab immer mal Strohfeuer“ und kritisierte damit den „Regionalismus“, der auch bei den Künstlern fortlebe. Die Stadt sei „nicht aufgeschlossen genug für eine lebendige Kunstszene.“ Das hat Corona durch ungewöhnliche Kunsträume aufgeweicht, doch es wird nicht genügen. Solange eine Stadt nicht erkennt, welche Kunstschätze hier liegen, solange darf Corona nicht dauern.
Text Marianne Hoffmann Fotos Katharina Dubno