von Ejo Eckerle
Sinkende Schülerzahlen im Landkreis, steigende in Mainz. Die rheinlandpfälzische Landeshauptstadt ist Schwarmstadt, Gewinner einer demografischen Entwicklung, sagt Sozialdezernent Kurt Merkator: „Alles schwärmt von Mainz und alle schwärmen nach Mainz.“ Schon jetzt ist absehbar, dass die Zahl der Grundschüler in den nächsten Jahren um rund ein Drittel anwächst: von heute knapp 6.500 Schülern auf 8.400 im Jahr 2023. Aber möglicherweise hat die Wirklichkeit diese Prognosen schon längst überholt, denn sie berücksichtigen nicht den Zustrom von Flüchtlingen, der in vergangenen beiden Jahren eingesetzt hat.
Denn von 4.000 Flüchtlingen, die derzeit in Mainz leben, sind rund 400 Kinder im schulpflichtigen Alter. „Ein Hauptproblem besteht darin, dass die Flüchtlingskinder sich nicht gleichmäßig über die Stadt verteilen, sondern wir bestimmte Bereiche haben wo es sich konzentriert, in Gonsenheim zum Beispiel, oder in der Neustadt bzw. Mombach. Da müssen wir Lösungen finden. Entweder, dass wir noch zusätzliche Räume bekommen oder Container aufstellen“, beschreibt Merkator die Lage.
Bildungspanik
Wer sich heutzutage mit der Frage beschäftigt „Welche Schule soll mein Kind besuchen?“, findet in Mainz ein breites und vor allem differenziertes Bildungsangebot vor. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Nicht jedes ist für alle erreichbar und den Überblick im Bildungsdschungel zu behalten fällt schwer. Wo man Wert auf Inklusion von Kindern legt, die einer besonderen Förderung bedürfen, fehlt es womöglich an mathematischen Angeboten. Wo Mathematik und Naturwissenschaften im Mittelpunkt stehen, könnten musische Fächer vernachlässigt sein. Und was ist mit Fremdsprachen? Wo kann mein Kind Chinesisch lernen? Wo gibt es zweisprachigen Unterricht? So machen sich ehrgeizige Mittelschichteltern, die das Beste für ihr Kind im Blick haben, oft selbst verrückt.
Die Bildungspanik hat sie im Griff. Großer Gewinner dieser Angst sind die Gymnasien. Inzwischen erhalten über 50 Prozent der Schüler die Empfehlung für den Weg zum Abitur. Da wo das Unterscheidungsmerkmal „Abitur“ nichts Besonderes mehr ist, müssen andere Kriterien her. Eine Lösung dafür bieten Schulen, die sich spezialisieren, zum Beispiel auf leistungsstarke Schüler, wie die Schule für Hochbegabtenförderung / Internationale Schule (hbf/is), die dem Otto-Schott-Gymnasium angegliedert ist. Das G8-Gymnasium bietet Französisch und Englisch ab der 5. Klasse an. Ab der 8. Klasse kommt Spanisch als Wahlpflichtfach hinzu, in der Oberstufe wird zusätzlich Italienisch angeboten. Angenommen wird, wer eine umfangreiche Bewerbungsmappe abgeliefert und sich im Aufnahmeverfahren einem Intelligenz- und Kreativtest unterzogen hat. Mit den entsprechenden Ergebnissen, versteht sich. Dafür ist man dann später „unter sich“.
Gewinner & Verlierer
Das gilt in gewisser Weise auch für eine altsprachliche Traditionslehranstalt, das Rabanus-Maurus-Gymnasium (gegründet 1561 und damit älteste Mainzer Schule). Wer seine Kinder ab der fünften Klasse Englisch und Latein und drei Jahre später zusätzlich noch Altgriechisch pauken lässt, hat wahrscheinlich nicht nur einen gewissen Anspruch, sondern vermutlich einen sozialen Status, der dem des gut situierten Bildungsbürgers recht nahe kommt. Auf der Gewinnerseite findet sich auch die Integrierten Gesamtschule (IGS) wieder. Alle sieben Mainzer Integrierten Gesamtschulen verzeichnen Jahr für Jahr hohe Anmeldezahlen, hunderte Schüler bewerben sich vergeblich um einen Platz.
Eine weitere IGS soll entstehen, doch den Weg dahin hat das Land mit Hürden gepflastert. Verlierer im Run auf Bildung ist die Realschule Plus, die das Land Rheinland- Pfalz 2009 eingeführt hat. Die Hauptschulen waren damit Geschichte. An der Realschule Plus kann sowohl der Hauptschulabschluss als auch die Mittlere Reife erworben werden. In gewisser Weise bieten sie auch ein Auffangbecken für jene, die am Gymnasium scheitern. Hauptschulen, die zur Realschule Plus aufgewertet sind, erweisen sich als Ladenhüter. Eltern geben lieber den ehemaligen, „richtigen“ Realschulen den Vorzug wie der Anne- Frank-Schule in der Altstadt.
Privat-Schulen & Internate
„Am Thema Bildung wird deutlich, dass Statusängste in erster Linie Zukunftsängste sind. Man sieht aufgrund von Mutmaßungen über das, was kommt, gefährdet, was man erworben hat und weitervererben will“, schreibt der Soziologe Heinz Bude in seinem Buch „Gesellschaft der Angst“: Das gelte für soziale Positionen, deren Wertschätzung sich dem immateriellen Wert des Wissen und den symbolischen Gütern von Bedeutung verdanken.
Der Wiesbadener Unternehmer Dr. Detlef Kulessa profitiert von dieser Sorge. Er ist so etwas wie ein Bildungsmakler. Kulessa vermittelt zwischen Eltern und exklusiven Privatschulen im In- und Ausland. Und er weiß sehr genau, was seinen Kunden umtreibt: „Die öffentliche Schule muss notwendigerweise nivellieren; denn sie muss so vielen verschiedenen Ansprüchen gerecht werden. So entsteht schnell der Eindruck, dass das eigene Kind auf der Strecke bleibt; entweder weil es nicht genug gefördert wird oder weil es sich wegen Unterforderung langweilt.“
Mit seinem Unternehmen „Töchter und Söhne“ spricht er Eltern an, die getrieben sind von diffusen Ängsten vor „Niveauverlust“ oder allzu heftigen sozialen Durchmischungen in den Klassen sowie einem starken Bewusstsein für Bildungsanstrengungen. Sind sie bereit – und in der Lage – bis zu 30.000 Euro im Jahr für den Schulbesuch ihres Kindes auf den Tisch zu legen? Dann stehen ihnen viele Optionen offen, denn in dieser Liga sind die Internate in England oder Amerika angesiedelt; Eliteschulen zumeist, die konzentriertes, ungestörtes Lernen im noblen Ambiente und kleine Klassen versprechen. Die Eltern erwarten und bekommen Lehrer, die sich mit Engagement um jeden Schüler kümmern.
Nicht selten mutieren auf solchen oft idyllisch gelegenen Lern-Intensivstationen Problemfälle, in deren Zeugnissen „Versetzung gefährdet“ zu lesen war, innerhalb kürzester Zeit zu Schülern mit passablen oder sogar guten Noten. Kulessa ist sicher, dass die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung den Boom der Privatschulen weiter antreibt: „Im Moment gibt es noch eine diffuse Angst, etwa dass das Kind in einer Klasse landet wo die Hälfte der Schüler nicht mehr Deutsch als Muttersprache spricht. Ich bin überzeugt davon, die Flüchtlingssituation wird das ganze noch einmal befeuern.“
Auch deutsche Internate, die in den letzten Jahren aufgrund des wachsenden Angebotes staatlicher Ganztagsschulen und nicht zuletzt wegen der Diskussion über Missbrauchs- Skandale, wie denen an der Odenwaldschule, sinkende Anmeldezahlen zu verzeichnen hatten, legen wieder deutlich zu. „Zu Beginn dieses Schuljahres sehen wir erstmals seit zehn Jahren, das viele Schulen wieder Wartelisten eingerichtet haben“, beschreibt Kulessa den Trend.
Sanierung & Finanzierung
Bildung kostet Geld. Dem Mainzer Sozialdezernten ist diese Vorgabe durchaus bewusst und er verweist auf die Anstrengungen, die die Stadt als Verantwortlicher für die „Hardware“ (Schulgebäude und deren Ausstattung) leistet und in Zukunft leisten wird: „85 Prozent unseres Investitionshaushaltes fließen in Schulen und Kitas.“ Eine der größten Schulbauprojekte betrifft die Integrierte Gesamtschule Anna Seghers in der Oberstadt, die quasi runderneuert wird. Kosten: circa 28 Mio. Euro. Über 20 Mio. fließen in die IGS Hechtsheim, weitere 9,5 in die dortige Grundschule. Mit über 11 Mio. Euro wird in das Gutenberg-Gymnasium investiert.
Auch in Wiesbaden stehen Baumaßnahmen im großen Umfang an. Die Rede ist vom „Sanierungsstau“, der aus defekten Toiletten, undichten Dächern, kaputten Fenstern und marodem Mobiliar besteht. Auf 400 Mio. Euro wird der Bedarf geschätzt. Ende letzten Jahres hat sich deshalb der Städtische Schulelternbeirat zu Wort gemeldet und auf die unbefriedigende Situation hingewiesen. So sind jetzt für die kommenden beiden Jahre 48 Mio. Euro für Investitionen im Schulbereich in den städtischen Haushalt eingestellt. Hinzu kommen noch einmal etwa zwölf Mio. für Instandhaltungsmaßnahmen. Bislang lag das jährliche Budget dafür bei rund 10 Mio. Euro.
Bildung bleibt die große gesellschaftliche Baustelle der nächsten Jahre und der Wunschzettel der Verantwortlichen ist lang. So wünscht sich der Vorsitzende des Wiesbadener Stadtelternbeirates, David Böhne, einen Schulentwicklungsplan, der mehr Perspektiven aufweist als bisher und beispielsweise deutlich mehr Schüler mit speziellem Förderbedarf an öffentlichen Schulen (inklusiver Unterricht) anstrebt. Zumal Wiesbaden als sogenannte Modellregion für Inklusive Bildung einen gewissen Vorbildcharakter hat.
„Wir würden uns noch die eine oder andere Ganztagsschule wünschen“, sagt Kurt Merkator, der Schulpolitiker aus Mainz. Inklusion ist auch für ihn ein Thema, das vorangetrieben werden muss. Wie sieht es mit den Inhalten aus, mit dem, was in den Schulen vermittelt wird? Detlef Kulessa, der Bildungsmakler aus Wiesbaden, hat da eine klare Haltung: „Ich wünsche mir mehr Engagement der einzelnen Lehrer, die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen für den Erfolg ihrer Schüler.
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