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Zentrum für selbstbestimmtes Leben wird 30 – Neue Projekte zur Inklusion

Drei nur schwer zu überwindende Bordsteinkanten-Zentimeter:
Rollstuhlfahrer hätten gerne weniger, Blinde benötigen mehr (Foto: I. Schelenz)

Im Georg-Forster-Gebäude auf dem Uni-Campus sind alle Räume fein säuberlich mit Blindenschrift versehen. Doch an jedem Seminarraum steht nur „Seminarraum“ und die Schrift wurde so groß gewählt, dass Blinde Probleme haben, sie mit den Fingern zu ertasten. Häufig sind es Kleinigkeiten wie diese, die Menschen mit Behinderung kopfschüttelnd bis verzweifelt zurücklassen. Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht – davon können Betroffene ein Lied singen. Und aus diesem Grund ist es für sie wichtig, mitzureden und mitzuentscheiden. „Unser Motto ist: Nicht über uns ohne uns. Wir wissen selbst am besten, was gut für uns ist“, so die Geschäftsführerin des Zentrums für selbstbestimmtes Leben (ZsL e. V.) Gerlinde Busch.


Pionierarbeit
„Am Anfang war vieles Pionierarbeit“, erinnert sich Busch. Inzwischen können Menschen mit Behinderung auf viele gewachsene Strukturen, Initiativen, aber auch Gesetze zurückgreifen: Öffentliche Stellen müssen ihre Internetseiten barrierefrei gestalten, und auch Neubauten müssen Auflagen Rechnung tragen. Dort ist das ZsL inzwischen auch als Gutachter beteiligt. Doch immer noch müssen Rollstuhlfahrer in vielen Lokalen draußen bleiben. Marita Boos-Waidosch, bis 2018 ehrenamtliche Behindertenbeauftrage der Stadt und Gründungsmitglied des ZsL, hat viel in Sachen Barrierefreiheit erreicht – seien es rollstuhlgerechte Toiletten in der Innenstadt, der Ausbau des Blindenleitsystems oder der barrierefreie Zugang zu öffentlichen Gebäuden. Zurzeit sitzen zwei Rollstuhlfahrer im Stadtrat – so etwas fällt nicht vom Himmel, sind sich die Mitarbeitenden vom ZsL sicher. Ihnen geht es auch um die Sichtbarkeit in der Gesellschaft. „Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen sind in Mainz sichtbarer als in Städten vergleichbarer Größe“, findet Busch.

Von Betroffenen für Betroffene
Das ZsL in der Rheinallee ist Interessenvertretung und Beratungsstelle in einem. Als gemeinnütziger Verein unterstützt es seit 30 Jahren Menschen mit Behinderung, ein möglichst eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Leben zu führen. Derzeit sind dort 32 Menschen mit und ohne Behinderung beschäftigt. „Stellen Sie sich vor, Sie kommen als Rollstuhlfahrer in eine Beratungsstelle und die Beraterin sitzt auch im Rolli“, verdeutlicht Busch. Dies bedeute den Betroffenen viel und sei das Erfolgsrezept der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB). „Viele Menschen, die erst später eine Behinderung bekommen, denken, ihr Leben sei vorbei“, sagt Busch. Hier können die Mitarbeitenden am eigenen Beispiel zeigen, dass es auch anders geht. Und auch die Stadt ist engagiert am Thema. Nachdem der Behindertenbeirat 2013 einen Aktionsplan zur UN-Behindertenrechtskonvention auf den Weg gebracht hatte, ist einiges passiert. Das Naturhistorische Museum wurde so umgestaltet, dass seit seiner Wiedereröffnung 2019 alle Ausstellungsbereiche barrierefrei zugänglich sind. Es wurden zwei taktile Stadtpläne entwickelt, die am Ausgang des Hauptbahnhofs und auf dem Übergang vom Brand zum Rathaus stehen. Des Weiteren wurde ein Innenstadtplan für Menschen mit Gehbehinderungen entwickelt. Und so freuen sich auch viele Senioren und Eltern mit Kinderwagen über eine barrierearme Stadt mit Rampen, Niederflurbussen und Türöffnern.

Taktiler Stadtplan am Bahnhof als Orientierungshilfe
für blinde und stark sehbehinderte Menschen (Foto: Fabian Wilhelm)

Barrierefreiheit bedeutet Teilhabe
Barrierefreiheit bedeutet aber nicht nur abgesenkte Bordsteinkanten und Blindenleitsysteme. Es geht um Teilhabe an allen Bereichen des Lebens – das fängt bei inklusiven Kitas an. „In den städtischen Kindertagesstätten werden flächendeckend inklusive Angebote gemacht“, weiß Bernd Quick, Behindertenbeauftragter der Stadt. Um die Inklusion noch weiter voranzutreiben, stellte Quick Ende 2022 im Sozialausschuss 13 Projekte zu den Themen Erziehung und Bildung, Barrierefreiheit im öffentlichen Raum, barrierefreies Bauen und Wohnen sowie Inklusion auf dem Arbeitsmarkt vor. Vorreiter sind seit vielen Jahren fünf integrative Kindertagesstätten in Mainz. Seit fast zehn Jahren können auch die städtischen Kitas Kinder mit Behinderungen grundsätzlich aufnehmen. In einem der 13 Projekte geht es jetzt darum, unter Federführung der integrativen Kindertagesstätten ein Kompetenzteam zu bilden, auf das alle Regeleinrichtungen der Stadt zugreifen können.

Bewegung bei der Kultur
Auch im kulturellen Bereich tut sich einiges. Die Kunsthalle, das Staatstheater und die Volkshochschule sind in den letzten Jahren inklusiver geworden. Am Staatstheater finden Vorführungen mit Gebärdendolmetschern statt, und die Kunsthalle hat Führungen für die unterschiedlichen Zielgruppen erarbeitet, etwa in leichter Sprache für Menschen mit kognitiven Einschränkungen. „Wir haben uns entschieden, in Zukunft den kuratorischen Text zu unseren Ausstellungen immer in leichter Sprache zu verfassen“, erklärt Marlène Harles. Und Franziska Wienzek – an der VHS zuständig für barrierefreies und inklusives Lernen: „Wir arbeiten seit jeher inklusiv und sind mit viel Engagement dabei.“ Das Problem sei eher, die Zielgruppe zu erreichen: „Unsere Räume mit Induktionsschleifen für Hörbehinderte werden so gut wie nicht genutzt.“ Was hilft es, tolle Angebote zu schaffen, die niemand nutzt? „Gerade Menschen, die in Einrichtungen leben, haben oft nicht die Möglichkeiten, an diesen Angeboten teilzunehmen“, gibt Busch zu bedenken.

Irene Alberti vom Zentrum für selbstbestimmtes
Leben behinderter Menschen e.V. (Foto: ZsL Mainz e.v.)

Raus aus den Werkstätten für Behinderte
Das ZsL engagiert sich auch schon länger dafür, die Betroffenen aus den Werkstätten für behinderte Menschen zu holen und sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu beschäftigen – auch aufgrund des Arbeitskräftemangels in vielen Bereichen. Ein wichtiges Instrument dabei ist das sogenannte Budget für Arbeit, über das schon Arbeitsplätze in städtischen Kindertagesstätten geschaffen wurden. Hier möchte die Stadtverwaltung weitere Arbeitsplätze schaffen und Vorbild sein. Viele Jugendliche haben heute jedoch sowohl die Kindertagesstätte als auch die Schule in Regeleinrichtungen durchlaufen. „Für diese Jugendlichen und deren Familien ist es oft unverständlich, dass der Weg in die Arbeitswelt über eine Spezialeinrichtung erfolgen soll“, so Bernd Quick.

Blick in die Zukunft
Also alles gut in Sachen Barrierefreiheit? „Ampeln mit akustischen Signalen könnte es in Mainz noch mehr geben“, wünscht sich Gerlinde Busch. Auch die vielen E-Roller, die im Weg rumstehen oder -liegen, verursachen Barrieren – nicht nur für seheingeschränkte Menschen. Zudem entwickele sich das Bewusstsein für leichte Sprache erst langsam. Das größte Problem aus Sicht des ZsL ist jedoch der Mangel an barrierefreien und bezahlbaren Wohnungen. Bei größeren Wohnungsbauprojekten wurde über städtebauliche Verträge zwar durchgesetzt, dass mindestens 25 Prozent der Wohneinheiten – und damit doppelt so viele, wie von der Landesbauordnung gefordert – barrierefrei gestaltet werden. Ein Großteil dieser neu gebauten Wohnungen sei für Menschen mit Behinderungen jedoch nicht bezahlbar. Die Mainzer Wohnbau baut zwar immer wieder barrierefreie Sozialwohnungen, was aber den Bedarf nicht annähernd decken kann. „In der Stadt zu wohnen ist jedoch eine wichtige Voraussetzung für die Inklusion der Menschen mit Behinderungen“, sagt Busch. Auch die Stadt hat erkannt, dass der Wohnungsmarkt für die Bedarfe von Menschen mit Mobilitätseinschränkung intransparent ist. Es soll daher eine zentrale Stelle geschaffen werden, die passende Angebote vermittelt. Ein Stein des Anstoßes ist nach wie vor das Kopfsteinpflaster in der Augustinerstraße sowie die mangelnde Barrierefreiheit in den äußeren Stadtteilen – sei es der Stadtteilbäcker, der Bahnhof Mombach oder das Laubenheimer Rheinufer. Beide Themen möchte die Stadt jedoch mittelfristig verstärkt angehen.

Text Katja Marquardt