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Wovon die Gegenwart nachts träumt: Autorin Sophie Stein im Portrait

Die Sonne sinkt bereits und die Schatten werden länger. Sophie Stein sitzt mit angezogenen Beinen auf dem warmen Betonboden. Auf ihrem Schoß liegt ihr Laptop. Diesen hat die 26-jährige Autorin immer dabei, denn er ist Rückzugsort und Arbeitsplatz zugleich. Ihr Debütroman, der ungewöhnlich und schillernd ist, wurde unter anderem für das ARD-Radiofestival ausgewählt. Der Erfolg kam plötzlich und bleibt surreal, bedeutet das Werk doch für die Autorin selbst etwas ganz anderes. „Amanecer war ein Befreiungsschlag“, sagt sie und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Um das Buch schreiben, musste sie vergessen, dass andere es jemals lesen würden. Nur so konnte ein rätselhafter und gefühlvoller Text entstehen, in dem sich die Protagonistin in Traumwelten verliert.

Sophie im Wunderland
Sophie Stein ist in Mainz geboren und verwurzelt. Mainz ist die Basis, von der aus sie die Welt erkundet und zu der sie nach ihren Reisen immer wieder zurückkehrt. Sie studierte Philosophie und Spanisch in Berlin, English Literature and Culture, Indologie und Komparatistik in Mainz und lebte für einige Monate in New York, auf Teneriffa und in Málaga. Neugierig richtet sie ihren Blick in die Zukunft. „Ich habe keine Lust, mich zu behandeln, als wäre meine Identität etwas Brüchiges und Verletzliches, das jeden Moment zerspringen könnte. Nein, ich glaube, wir sind sehr dehn- und wandelbar, und vor allem lern- und entwicklungsfähig.“ Ihre Brille wird an der Seite mit einem Stück Klebeband zusammengehalten. „Schon bevor ich schreiben konnte, habe ich mir Geschichten ausgedacht, die parallel zu meinem Leben verliefen und mich mit einem Fuß in der Realität und dem anderen in der erfundenen Welt stehen ließen.“ Geschichten und Mythen sind für Sophie Stein der Versuch, die Welt zu verstehen.

Spurensuche mit der Lupe
Ihren Anfang nahm die Arbeit an ihrem ersten Roman „Amanecer“ in einer spanischen Bibliothek. Dort übersetzte sie 2016 altkanarische Mythen aus dem Spanischen. „Letztendlich ist dann kaum etwas davon übriggeblieben. Ich habe den ursprünglichen Plan, diese Mythen in den Fokus zu stellen, stark abgewandelt.“ In ihrem Buch finden sich noch weitere Anspielungen: Begibt man sich auf Spurensuche, trifft man auf Descartes, William Blake und orientalische Märchen. Das Streben nach Erkenntnis ist einer der Gründe, warum Sophie schreibt. Wie ihre Protagonistin ist sie auf der Suche nach dem Wesen der Dinge. Dabei hat sie warme und wache Augen, mit denen sie die Welt aufnimmt – niemand, der an der Oberfläche verweilen mag. Liest man ihre Metaphern, hat man den Eindruck, dem Beschriebenen ganz nah zu sein, fast als schaue man durch eine Lupe.

Inspirierende Begegnungen
Den Winter verbrachte Sophie in Spanien, um Abstand von „Amanecer“ zu gewinnen und neue Ideen zu entwickeln. In Andalusien mietete sie sich ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft, packte ihre Tasche und den Laptop aus und blieb, solange es ihr gefiel. Durch Zufall lernte sie hier auch andere Schriftsteller kennen. Es entstanden lange spanische Winterabende, in denen die Kälte nachts in die unbeheizten Häuser kroch und bei der man sich mehrere Pullover übereinander zog und die Häuser aufgrund der Ausgangssperre nach 22 Uhr nicht mehr verlassen durfte. Mit dortigen Journalisten redete sie auch über politisch engagiertes Schreiben. Das mag ein inspirierender Gegensatz zu ihrem neoromantischen Debütroman gewesen sein und bestärkte in ihr das Vorhaben, sich mehr mit gesellschaftlichen Themen zu beschäftigen.

Was die Zukunft bringt
Langsam wird es kühl. Sophie streift sich einen blauen Pullover über. Er ist zu groß und bedeckt ihren schlanken Körper wie ein sanfter Himmel in der aufkommenden Dämmerung. „In meinem nächsten Projekt möchte ich mich mehr trauen. Ich möchte diesmal nicht nur Risiken formeller Art, sondern auch Risiken inhaltlicher Art eingehen“, sagt sie. Ein neuer Roman schlummert bereits. Die Mainzer „Leselampe“ plant eine Veranstaltung und auf dem ARD-Radiofestival im Sommer 2021 wird „Amanecer“ von der Schauspielerin Sarah Grunert gelesen.
Text Lena Frings
Fotos Simon Spieske & Lena Frings