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Wohnen in Mainz: So erlebt eine WG Corona

Acht Personen teilen sich das denkmalgeschützte Haus mit Garten in der Oberstadt.

Mainzer Oberstadt, südlich des Volksparks: Wer sich für Architektur interessiert, sollte sich einen Sonntagnachmittag Zeit nehmen und durchs Viertel rund um die Straßen Am Rosengarten und Am Klostergarten schlendern. Das Areal ist denkmalgeschützt. Hier stehen Villen vom Anfang des 20. Jahrhunderts, erbaut im neoklassizistischen Stil des 19. Jahrhunderts. Die Villen sind großbürgerlich repräsentativ, mit vielen Fenstern und Balkonen, auf denen niemand sitzt. Auf der Straße trifft man nur wenige Personen. Die großen Gärten sind menschenleer. Das ganze Viertel wirkt ruhig, anonym und aufgeräumt. Niemand würde hier eine WG vermuten, erkennen tut man sie aber sofort: vorm Haus eine Reihe an Fahrrädern, mehrere Namen am Klingelschild, der Rasen im Vorgarten nicht ganz so akkurat geschnitten und die Hecke wächst ein bisschen zu weit über den gusseisernen Zaun.

Villa über WG-gesucht
Hier wohnen acht Personen auf drei Stockwerken. Zehn Zimmer, zwei Küchen, drei Bäder und eine Gästetoilette teilen sich die Bewohner in diesem beeindruckenden Haus, das im Wikipedia- Eintrag zu den Villen Am Klostergarten auch explizit erwähnt wird. Einige der Bewohner sind berufstätig, andere studieren noch. „Die Mischung ist super, sonst hätten wir sicher einige Probleme mehr im Bad, wenn morgens alle zur gleichen Zeit aus dem Haus gingen“, erklärt Anastasia, eine der ersten Bewohnerinnen der WG. Ganz einfach über das Portal „WG-gesucht“ hat sie ihr Zimmer gefunden und Sarah mitgebracht. So ähnlich lief es auch bei den anderen Mitbewohnern Hanna, Johannes und Marvin. Jil kannte den Vermieter und hat Simone von dessen WG-Plänen für sein ungewöhnliches Haus erzählt. Alle waren von Anfang an begeistert von der besonderen Atmosphäre Geplant und erbaut wurde das Doppelhaus vor ziemlich genau 100 Jahren für Angehörige der französischen Offiziere, und das Alter merkt man dem Haus an.

Bibliophile Gesellschaft
Die Dielen quietschen, alte Biedermeier-Möbel stehen noch von den vorherigen Bewohnern herum, die Fenster sind nicht gedämmt. „Wir haben kurz nach dem Einzug mal hinter alle Türen und Türchen im Haus geschaut – das hat einen halben Tag gedauert“, lacht Sarah. „Und eine Harry Potter-Kammer unter der Treppe in den ersten Stock gibt es natürlich auch“. Das etwas überdimensionierte Treppenhaus hat das Flair einer Hotellobby und eignete sich hervorragend als Tanzfläche bei der Silvesterparty. Vom Treppenhaus kommt man in die Bibliothek, die noch voller Bücher steht. Vor der WG lebte ein Ehepaar hier und der Ehemann war „so etwas wie Stadthistoriker“, vermutet Hanna.

Die Bibliothek dient den Bewohnern nun als Gemeinschaftsraum. Hier haben sie via Skype und Beamer auch die neuen WG-Mitbewohner gecastet, die bald einziehen werden. Wegen der Corona-Pandemie haben sie auf persönliche Gespräche verzichtet und treffen die neuen Mitbewohner das erste Mal von Angesicht zu Angesicht erst, wenn diese einziehen. Nicht die einzige Einschränkung dieser Tage: Als bei Anastasia wegen Verdacht auf Corona Hausarrest angesagt war, haben die Mitbewohner mitgemacht. Ihr Test war negativ, aber die Wartezeit unangenehm: „In diesem großen Haus mit Garten war und ist die Selbst-Isolation allerdings ganz gut auszuhalten: Wir haben im Garten Sport gemacht, im Wintergarten gemeinsam genäht und man hat immer jemand anderen zum Quatschen, sodass kaum Lagerkoller aufkommen konnte“, erzählt Simone. Auch wenn im Haus alle gesund sind, ist es ruhiger geworden – keine „unnötigen“ Besuche mehr und rausgegangen wird eh weniger. Da die meisten von ihnen auf den Besuch daheim verzichteten, haben die Bewohner Ostern zusammen gefeiert.

Von der Nachbarschaft bekommt die WG nur wenig mit. Zum Einzug haben sie sich bei den Nachbarn vorgestellt und wurden überall freundlich und mit viel Wein begrüßt. Die 88-jährige Nachbarin hat bei der Silvesterparty das Hörgerät etwas herunter gedreht und mit den Bewohnern auch schon ein Glas Rotwein getrunken. „Sie hat in ihrem Garten eine Luke, die ein Zugang zu den Mainzer Unterwelten ist. Bisher hat sie uns da aber noch nicht reingelassen“, scherzen die Mitbewohner. Neugierig sind sie schon.

Nina Stemmler
Fotos: Jana Kay