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Staatstheater stellt Spielzeit 2024/25 vor

Das Programm für die elfte gemeinsame Spielzeit steht. In einer Pressekonferenz haben Markus Müller (Intendant), Hermann Bäumer (Generalmusikdirektor), Sonja Westerbeck (Chefdramaturgin Musiktheater) und Jörg Vorhaben (Chefdramaturg Schauspiel) die Produktionen der kommenden Saison am Staatstheater vorgestellt: 30 Premieren in Musiktheater, Schauspiel und Tanz stehen auf dem Programm, außerdem bleiben 29 Stücke weiter im Spielplan. Hinzu kommen Lesungen, Liederabende, Diskursformate und Projekte in der Kakadu Bar und in der Mainz Residenz sowie das Grenzenlos Kultur Theaterfestival, das Plug&Play Festival und das tanzmainz festival. Es ist übrigens Bäumers letzte Spielzeit in Mainz: https://sensor-magazin.de/chefdirigent-des-staatsorchester-hermann-baeumer-letzte-spielzeit-2025/


„Vor zehn Jahren haben wir begonnen, hier in Mainz gemeinsam Theater zu machen. Voller Vorfreude auf die elfte Saison, werfen wir einen Blick in den Rückspiegel: Was hat uns beschäftigt, welches waren und sind die Motive, die uns bei der Spielplangestaltung und im dazugehörigen Diskurs geleitet haben und leiten“, fragt Markus Müller und führt aus: „Zwei miteinander verschwisterte Begriffe kristallisieren sich heraus – Wahrnehmung und Erkenntnis. ,Man darf nicht alles glauben, was man sieht‘, ,Du kannst mir alles erzählen‘ oder ,In deiner Haut will ich stecken‘ waren Leitmotive der letzten Spielzeiten, es ging um Transparenz, um Empathie, um das Verstehen und das Verständnis und natürlich immer um die Übersetzung von Wirklichkeit in Theater, denn ,Wie wäre diese Welt, wenn sie nicht auch voll Poesie wäre‘? Viel haben wir entdeckt und weiterentwickelt – und mindestens ebenso viel haben wir probiert und verworfen, denn
das gehört zu unserem Handwerk, nur wer wagt, gewinnt Erkenntnis.“

„Makulatur“ ist die Metapher für etwas, das nicht mehr gültig, das überholt ist. Ein Begriff aus dem Druckwesen für schadhafte und darum aussortierte Papierbögen. Makulatur aber bildet am Theater auch die Bedingung dafür, dass kreative Prozesse gelingen können: eine Materialsammlung von teils genutzten, teils verworfenen und teils für eine mögliche Wiedervorlage in anderem Zusammenhang aufgehobenen Ideen. Kein künstlerisches Ergebnis steht für sich, das Stück auf der Bühne ist ein Extrakt, destilliert aus der großen Summe unzähliger Versuche – Proben bedeutet Ausprobieren und Ausprobieren bedeutet immer auch die Möglichkeit des Scheiterns. Dass das aber in Zeiten von schnell verurteilenden und bisweilen bösartig spottenden Sozialen Medien gefährlich geworden ist, tut nicht gut, weil so Konformität erzwungen und Mut blockiert wird. Also haben wir die Makulatur – sowohl als Bild für eine reiche Stoffsammlung als auch für die Präsenz des Vergangenen – zum Gestaltungsprinzip für das Jahresheft erhoben: Eingehüllt in unterschiedliche Druckbögen aus Plakaten von Produktionen der vergangenen Spielzeiten präsentiert sich die Vorschau auf das Neue. Vielleicht erkennt manche*r das eine oder andere wieder, zu entdecken ist zum Beispiel Hannah und ihre Schwestern, gerade gewählt unter die „100 besten Plakate“.
Mit der Erkenntnis ist es eine vertrackte Angelegenheit, was, zumal im Kant-Jahr, auch wiederum keine neue Erkenntnis ist. Erkenntnis ist zweifelhaft, weil sie sich unter anderem aus Wahrnehmung speist, die nun wirklich eine unzuverlässige Zeugin abgibt, dem
Augenschein ist nicht zu trauen. Wir sehen doch, dass die Sonne sich bewegt, und dennoch ist Kopernikus im Recht …
„Hier kommt im Wortsinne das Theater ins Spiel“, so Markus Müller, „denn auf der Bühne fürchten wir die Täuschung nicht, wir feiern sie! Das Theater spielt mit unserer Wahrnehmung so lange Verstecken, bis wir zumindest die Erkenntnis finden, dass die Dinge oft nicht so simpel sind, wie wir glauben. Es kann uns dafür sensibilisieren und unser Verständnis dafür schärfen, dass meistens mehr dahintersteckt. Damit sind wir noch nicht im Besitz der eh nicht zu erreichenden letztgültigen Erkenntnis, aber schon im Zustand wacher Aufmerksamkeit für das Versteckte.“ Auch hierfür gibt es natürlich einen passenden philosophischen Begriff: Das „Palimpsest“ klingt nicht nur schön, sondern taugt auch zur Metapher. Dieser Begriff aus der Handschriftenkunde hat, wie „Makulatur“, mit Papier zu tun. Er steht für technisch entfernte und dann überschriebene Schrift auf einem Pergament – Papier war rar und kostbar! Der ursprüngliche Text ist nur noch in Spuren und Fragmenten in und unter dem neuen Überschreibungstext sichtbar. Das Palimpsest ist also in Teilen noch zu lesen, bleibt zugleich aber Geheimnis. Und das macht es zu einem echten Theaterwesen, das dazu auffordert, mit Fantasie auszufüllen, was auf den ersten Blick nicht zu sehen ist. Und dazu, gelegentlich unter die Oberfläche zu schauen und nach scheinbar ausradierten Spuren zu suchen, Fährten zu lesen und im Austausch miteinander abzugleichen. Ob wir diese dann ebenfalls verwerfen oder viel wichtiger finden, steht auf einem anderen Blatt, erst einmal könnte man sie zur Kenntnis nehmen. Was vielleicht besonders dann gilt, wenn wir aus unserer Wahrnehmung und aus dem, was wir für Erkenntnis halten, Normen ableiten. Wahrnehmungen und Erkenntnisse ändern sich manchmal fundamental (siehe Kopernikus) – was kann dann überhaupt normal sein und welche Bedingungen gelten dafür?

ES GEHT UMS GANZE: Die Spielzeit 2024/25 im Staatstheater Mainz
Um was also geht es in der Spielzeit 2024/25? Wir geben auch dieses Mal wieder kein Motto aus, aber als Leitmotiv könnte taugen: Es geht ums Ganze. Also um den Menschen und um das, was ihn ausmacht, um unsere Welt, das Leben, den Tod, die Liebe, die Macht, den Krieg – kleiner ist das Drama in all seinen Spielarten nicht zu haben. „Es geht ums Ganze“ steht aber vor allem auch für den Versuch, das Ganze hinter den Teilen zu erahnen und zusammensetzen zu wollen, das Palimpsest unter der Oberfläche, die Makulatur im Produkt.

SCHAUSPIEL
Insbesondere im Schauspiel wird uns vor diesem
Hintergrund die Frage nach Festlegungen von Normalität
beschäftigen, wenn es sich, wie in der deutschen
Erstaufführung Kranke Hunde der Else Lasker Schüler-
Stückepreisträgerin Ariane Koch um den dysfunktionalen
Körper und die Definition von Gesundheit dreht
– oder um einen für die Marktforschung unglaublich
interessanten Ort voller Durchschnittsmenschen
namens Magic Town. Felix Krull ist in der betrügerischverführerischen
Sprache von Thomas Mann ein faszinierender
Protagonist der Camouflage, Manipulation
und Täuschung, sein Leben ein Theaterstück, seine
Welt eine Bühne. The Addams Family dreht die Vorzeichen
einfach um, das Absonderliche ist normal und die arme Wednesday, die so gerne normal sein will, die
Außenseiterin in der schrillen Familie. Der größte und
brutalste Ausnahmezustand, die größte Abwesenheit
von Normalität ist der Krieg. Im dritten Jahr des
Ukrainekriegs, angesichts der Kämpfe im Nahen
Osten und des wachsenden Rassismus und Antisemitismus
auch in Deutschland spielen wir mit Natalka
Vorozbhyts non-existent, And now Hanau und Im
Herzen der Gewalt aktuelle Stücke zu den genannten
Themen. Damit wir uns nicht an eine neue Normalität
gewöhnen, die keine sein sollte. Und damit die Menschen,
für die diese Nichtnormalität alltägliches Leid
bedeutet, nicht allein gelassen werden.
Tragödie, Komödie und Musical spielen mit Verkleidung,
Täuschung und Enttäuschung und jedes dramatische
Mittel soll uns recht sein, um ein wenig klarer zu
sehen. Wiederaufnahmen und Premieren im Zusammenspiel
bieten Möglichkeiten zur willkommenen
Unterhaltung und zum Ausbruch aus den funktionalen
Zwängen unseres Alltags ebenso wie Herausforderungen
zur Auseinandersetzung mit existenziellen
Fragen. Im großen Familienstück Die kleine Hexe wird
gleich richtig gezaubert und natürlich ist Die unendliche
Geschichte eine der fantasievollsten Erzählungen
über geträumte und wirkliche Welt und die Bedeutung
der einen für die andere.

MUSIKTHEATER
Vergänglichkeit wird im Theater immer mitgedacht,
wir investieren mit unglaublichem Aufwand in den
nicht festzuhaltenden Moment. Oder, um einen weiteren
großen Philosophen zu zitieren: „Oper ist teuer und
unnütz und wunderschön“, sagte Loriot. Besser lässt
sich nicht ausdrücken, dass Kunst genau darum so
wichtig ist, weil sie sich dem direkt Nützlichen verweigert.
Verzauberung, Entzauberung und Täuschung sind
auch im Musiktheater Motive der kommenden Saison.
Die schöne Helena erzählt vom trojanischen Pferd, das
natürlich ein großartiges Bild ist für alles, was wir eben
nicht auf den ersten Blick sehen können. Zugleich ist
diese heitere Oper selbst ein trojanisches Pferd, denn
als Persiflage und Satire liefert sie die Gesellschaftskritik
in charmant leichtem Gewand. Philip Venables
Oper 4.48 Psychose nach Sarah Kane ist auf ganz
andere Weise ein Werk über die Schichten und Abgründe
unserer Seele und über die Frage, wann wir eigentlich
klarsehen und wann wir verrückt werden und ob
wir das eine mit dem anderen verwechseln können. Das
unheimliche The Fall of the House of Usher zieht ins
Übersinnliche, während es in L’Aiglon, Idomeneo und
Turandot um Krieg und Macht, um Politik und Liebe
geht. Ums Ganze. Und immer wieder auch um Verblendung.
Ein schöneres Bild für die Tücken der Wahrnehmung
allerdings als das des Eissplitters in Kais Auge in
Die Schneekönigin nach dem Märchen von Hans Christian
Andersen gibt es vermutlich nicht – und um zu
wissen, dass Musik Erkenntnis ganz direkt auslösen
kann, muss nicht noch einmal Loriot bemüht werden,
das hat jede*r gespürt, der einmal von einer Arie
ergriffen war.

TANZMAINZ
Der Tanz versteht sich darauf, Ungesagtes und Unsagbares
darzustellen und über die choreografierten
Bewegungen Menschenporträts zu zeichnen, die uns
überraschen und auf völlig anderer Ebene begegnen.
Unbeholfen und etwas empfindsam sind diese Menschen
bei Frédérick Gravel aus Montréal, ein bisschen
schnoddrig und skeptisch, aber immer sympathisch:
History is Mostly Made of Flesh ist der Titel seiner
Uraufführung. Virtuos und damit physisch und technisch
herausfordernd für das Ensemble von tanzmainz,
wird es mit dem Italiener Philippe Kratz und Camera
Obscura. Alan Lucien Øyen aus Norwegen ist bekannt
für seine philosophisch substanzreichen und klugen
Produktionen, womit wir wieder beim Thema wären…
– wir freuen uns auf Underdog. In Kooperation mit
Sasha Waltz kommt IN C auf den Spielplan von tanzmainz,
außerdem blicken wir mit Vorfreude auf das
große tanzmainz festival und darüber, dass die Compagnie
weiterhin zu zahlreichen Gastspielen unter anderem
in Tirana, Paris, Berlin und Tokio eingeladen ist.
Das Grenzenlos Kultur Theaterfestival steht in guter
Tradition wieder am Anfang der Spielzeit und in der
Kakadu Bar und in der Mainz Residenz wird auch in
der kommenden Saison viel Raum und Zeit für die
Auseinandersetzung mit aktuellen Themen, für Liederabende,
Lesungen, Try Outs und Sharings sein.
Das Kombiticket, das mit der laufenden Spielzeit
eingeführt wurde, erfreut sich größter Beliebtheit und
bleibt dem Publikum natürlich weiter erhalten. „Das
Konzept, lästige Wartezeiten zu vermeiden und mehr
Möglichkeiten zum Austausch und entspannten Beisammensein
zu schaffen, löst sich hervorragend ein“,
betont Markus Müller, „wir sind begeistert, wie gut
diese Idee von unserem Publikum angenommen wird. Vor den Vorstellungen und in den Pausen erleben wir in
den Foyers eine wunderbar angeregte Atmosphäre.“

Mit Veröffentlichung des Spielplans gibt es ab sofort die Chance, sich mit einem Abonnement für die kommende Saison die eigenen festen Theatermomente zu sichern. Am morgigen Samstag wird um 11 Uhr im Großen Haus das Programm den Abonnenten und all jenen, die es werden wollen vorgestellt.

Das neue Jahresheft 2024/25 mit seinen sechs unterschiedlichen Plakat-Covern liegt ab sofort im Staatstheater aus und kann online auf der Website des Theaters digital gelesen und durchgeblättert werden.

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