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So wohnt Mainz: Das WG-Haus

Text: David Gutsche
Fotos: Frauke Bönsch

„Wir sind mit der Gesamtsituation unzufrieden – is aber egal“ So verkündet das Blechschild an der Tür des gelb gestrichenen Hauses in der Oberstadt. Laut Gerüchten ist es bereits über 300 Jahre alt. „Eine Familie hat früher die drei Stockwerke bewohnt“, vermutet Uriel Gahl, Mieter im ersten Stock des Hauses. Der 26-jährige Archäologie-Student lebt seit drei Jahren in der leicht beengten Wohnung, in diesem Haus, das so manche Legende kennt. Etwa den Topf, der jahrelang im Garten vergraben lag. Ein Vormieter ließ darin mehrere Monate sein liebevoll von der Mutter zubereitetes Weihnachtsessen zu Maden werden. Daraufhin entschloss man sich, den Emaille-Topf im Garten zu vergraben und einen exakten Plan „des Schatzes“ anzufertigen. Jedes Jahr an Pfingsten, so der Beschluss, pünktlich zum Open Ohr Festival, dessen Mitorganisatoren heute Gahl und Anna aus dem 2. Stock sind, wurde der Topf wieder ausgegraben, um sich an seinem Inhalt zu erfreuen. Mittlerweile steht er – gereinigt – an seinem Platz in Gahls Kochregal.
Sechs Parteien teilen sich heute das Gebäude: Student Gahl und Sebastian (Zimmermann, 35 Jahre), das Pärchen Anna und Andi, er Biologie-Student, sie Sozialarbeiterin sowie Ethnologie-Studentin Friederike und CAD Konstrukteur Jens. „Wie eine WG muss man sich das Haus vorstellen, nur mit eigenen Wohnungen“ erklärt Friederike, die gerade an ihrer Magisterarbeit sitzt und deren Wohnung rot gestrichen mit diversen nigerianischen Souvenirs aufwartet. So passiert es auch schon mal, dass die sechs Mieter gegenseitig bei sich „einbrechen“, etwa wenn mal wieder der Haustürschlüssel verloren wurde oder sonst etwas benötigt wird. Am schwersten hat es dabei Gahl. Seine Tür trat er vor einiger Zeit versehentlich im Suff ein. Nun hängen zwei ausgediente Schranktüren in den Angeln, was ihn immerhin zum stolzen Besitzer der einzigen Flügeltür im Haus macht.
Die Bewohner verstehen sich aber bestens. Gemeinsam feierten sie bereits die eine oder andere Party auf allen Stockwerken gleichzeitig, im Sommer auch gerne im Garten im lauschigen Hinterhof. Gegenseitig Unterstützung und Hilfe ist auch angesagt, wenn das teils marode Haus mal wieder ein bauliches Problemchen hat. Davon gibt es hier so manche. Bei den Wänden geht es los. „Die sind teilweise so schlecht gedämmt, als wären sie hohl und darunter aus einem Holzgerüst mit Stroh dazwischen. Schon zwei Mal brachen in den Wohnungen die Küchenschränke herunter und schlugen den Wasserhahn ab, was eine Überflutung der Küche zu Folge hatte“ erzählt Gahl. Manche Decke droht einzubrechen, man traut sich kaum sie zu berühren. Im Winter frieren die Wasserrohre ein, was besonders unpässlich kommt, wenn man Wäsche waschen möchte oder auf Toilette sitzt. Auch brach schon das Dach im Treppenhaus ein, so dass sich Sturzbäche in den Hausflur ergossen. Dicke Schimmelpilze der übelsten Sorte bildeten sich. „Die haben so gestunken, da haben sich nicht mal mehr die Handwerker rein getraut“ erzählt Andi. Irgendwie kommen die Bewohner aber trotzdem mit der Situation zurecht: „Uns gefällt es hier und die Lage ist toll“ schwärmt Andi, „man ist schnell in der Stadt und im Garten ist im Sommer immer was los“. Der besagte Garten liegt tatsächlich malerisch, bestück mit antikem Mauerwerk. Ein idyllischer Blick bietet sich von hier auf St. Stephan, die Kirche mit den bekannten blauen Chagall-Fenstern. In den Garten mündet ebenfalls der Notausgang der Gaststätte „Zum Gebirg“, eine der ältesten Gaststuben von Mainz mit über 150jähriger Tradition. Die liegt direkt neben dem Haus und man pflegt einen freundschaftlichen Umgang. Anders als mit manch anderen Nachbarn, die auch gerne schon mal Steine in den Garten werfen, wenn es im Sommer zu laut wird.
Wir ziehen den Hut vor den jungen Damen und Herren, die es trotz widriger Umstände geschafft haben, dieses Domizil mit Liebe und Originalität zu einem lebenswerten, schönen und liebevollen Ort zu gestalten. Vielleicht sieht man sich wieder im Sommer, im Garten, zum Open Ohr oder Topfschlagen, um noch so manch anderen Schatz oder die eine oder andere Legende über die Große Weißgasse und ihre Bewohner aus der Versenkung zu heben.