Direkt zum Inhalt wechseln
| 1

sensor-Kolumne im Dezember: 25 Jahre Dr. Treznok in Mainz – ein gelungenes Beispiel für Integration

DrTreznok
Auch ich bin ein Flüchtling. 1992 entfloh ich dem lustfeindlichen und totlangweiligen pietistischen Protestantismus aus Stuttgart und fand in Mainz freundliche Aufnahme. Ich selbst bin durchaus gern Protestant. Meine Familie stammt aus der Wiege der Reformation, Wittenberg mit Luthers Thesen war nicht weit.  Meine Eltern waren selber Flüchtlinge aus der DDR, als sie kurz vor meiner Geburt in Stuttgart ankamen. Der württembergische Pietismus schlug mir auf den Geist, und so blieb mir 1992 nur noch die Flucht.

Längst bin ich in Mainz heimisch geworden, 2017 feiere ich mein 25-jähriges Jubiläum. Der Anfang war nicht leicht, ich hatte es sogar schwerer als meine Eltern. Die waren von einem protestantischen Teil Deutschlands in einen anderen geflüchtet. Ich aber war in einem völlig anderen Kulturkreis gelandet, in einer katholisch geprägten Stadt. Bis dahin hatte ich noch nie Katholiken erlebt. In meinem Herkunftsdorf hatte es zwei katholische Familien gegeben, eine spanische Einwandererfamilie und eine aus Sudetendeutschland. Als Kind war ich mit meinen Eltern im katholischen Italien. Katholiken waren irgendwie Fremde, die es in meiner Vorstellung normalerweise nur außerhalb von Deutschland gab.

Eine andere Kultur ist immer auch eine Herausforderung, aber die lebenslustige Mainzer Art hat es mir von Anfang an leicht gemacht, mich heimisch zu fühlen. Die Fassenacht kannte ich noch nicht einmal aus dem Fernsehen, weil man sowas bei den spießigen Protestanten nicht anschaut. Nun bekam ich geradezu einen Kulturschock. Es war viel irrsinniger, als ich es mir bis dahin hätte vorstellen können. Dass man am Aschermittwoch beichten geht, war mir nicht klar, aber schnell merkte ich, dass die Katholiken mehr von Lebenslust verstanden als die Protestanten, noch dazu die besonders langweiligen württembergischen Pietisten.

Nun bin ich also schon 25 Jahre in dieser Stadt, die ich für die wichtigste Stadt Deutschlands halte. Ohne Gutenberg wäre die Reformation nicht möglich gewesen. Auch sonst ist Mainz geschichtsträchtig, besitzt einen Heiligen Stuhl im Dom und gilt als die Medienhauptstadt Deutschlands. Aktuell beherbergt sie einen der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker, nämlich mich. Da sich aber kaum jemand für meine Lyrik interessiert, verdinge ich mich nebenbei als Kolumnist. Damit trage ich mein Teil dazu bei, das Leben in dieser lustvollen Stadt noch lustiger und lachgewaltiger zu gestalten.

Ich gebe zu, die letzten Sätze waren ein bisschen dick aufgetragen. Ich erwarte auch keineswegs, dass mir die Stadt Mainz, die mich damals so lieb aufgenommen hat, nun zu meinem 25-jährigen Jubiläum ein schönes, am liebsten alkoholfreies Fest bereitet, mit Saumagen und anderen Leckereien. Dazu ist mein Jubiläum zu unwichtig angesichts der 500 Jahre, die im Lutherjahr 2017 Grund genug sind, für mich als gelernten Protestanten meinen Protest gegen die Katholiken zu reformieren.

Meine Eltern sind inzwischen übrigens auch längst in ihre Heimat zurückgekehrt, ins anhaltinische Hinterland, irgendwo zwischen Wittenberg und der Wartburg. Heute findet man dort nur noch 15 Prozent Kirchenmitglieder. Die Kirche hat sich größtenteils wegreformiert. Da ich dort nicht leben muss, kann es mir egal sein. Ich möchte die Mainzer Lebenslust wirklich nicht gegen die dunkeldeutsche Düsternis der ostdeutschen Pampa tauschen.

Und wie gesagt, ich erwarte auch gar nicht unbedingt ein großes Fest im Rathaus, mit Mainzer Leckereien und alkoholfreien Cocktails, und sei es auch nur um zu zeigen, wie erfolgreiche Integration funktionieren kann – immerhin bin ich in den letzten 25 Jahren wirklich Mainzer geworden, und das, obwohl ich aus einem anderen Kulturkreis stamme. Vielleicht ist es aber auch gar nicht so anders, immerhin war Luther selbst ja Katholik durch und durch, so wie Jesus Jude war. Das vergisst man immer so schnell, gerade in Deutschland.

1 response to “sensor-Kolumne im Dezember: 25 Jahre Dr. Treznok in Mainz – ein gelungenes Beispiel für Integration

  1. Ein sehr guter Beitrag. Man kann sich auch in seiner eigenen Kultur fremd fühlen. Inwieweit man wirklich vor Protestanten flüchten muss sei dahingestellt, aber jeder Mensch sucht eine Heimat, einen Ort der liebevollen Annahme. Flucht hat immer zwei Aspekte – Flucht von etwas and Flucht zu etwas hin, jenauso wie mit der Freiheit. Sich selbst sein zu dürfen in einer lebenslustigen Gemeinschaft, das ist schon sehr viel.

Comments are closed.