Ob Winterhafen oder Zollhafen, Gaustraße, Dalberger Hof oder Neutorschule – überall kommt man auf dieselbe Idee: Man will schicke teure Luxuswohnungen schaffen und an finanzkräftige Privatiers verkaufen. Zum Schluss wohnen überall in Mainz nur noch reiche Leute in schmucken Eigentumswohnungen. Die vielen Reichen locken edle Schmuckgeschäfte, Galerien und teure Boutiquen an. Die Innenstadt floriert, die Touristen sind begeistert und Mainz wird reicher, schmucker und sauberer als die Schweiz und Liechtenstein zusammen. Von dem angesiedelten Reichtum profitieren schließlich alle, auch die Armen, die inzwischen geballt im Komponistenviertel auf dem Lerchenberg zusammengepfercht wurden. Die sind dann auch weniger arm, weil in den Bussen der Linien 54 und 70 immer ein bisschen Geld liegenbleibt, und alles ist gut.
An sich keine schlechte Idee, die aber nicht funktionieren kann. Das Ganze erinnert stark an die Cargo-Kulte Melanesiens. Die Südsee-Insulaner, begeistert von der westlichen Technik, schnitzten sich Radios aus Holz, stöpselten sie mit Lianen an irgendwas an und warteten, dass die Ahnen aus den Radios zu ihnen sprechen. Die Idee war toll, aber es klappte nicht und obwohl sie doch alles richtig gemacht hatten: Die „Radios“ blieben stumm. Elektrizität war ihnen unbekannt. Der Fehler konnte nur religiöser Natur sein, also entwickelten sie neue Kulthandlungen, um ihrem „Radio“ eine Stimme zu entlocken.
Auch den Mainzer Städteplanern ist wohl einiges unbekannt. Die Insolvenztempel,die den ganzen Innenstadtbereich säumen, sind stumme Zeugen typischer Cargo-Kult-Handlungen. Man baut schmucke Ladengeschäfte, füllt sie mit Waren und Verkaufspersonal, plant ein bisschen Gastronomie dazwischen, alles ganz praktisch unter einem Dach, und schon florieren die Geschäfte. Doch am Ende hat man ein leer stehendes Altmünstercenter, eine rattenverseuchte Lotharpassage, die ebenfalls leer steht und einen sich immer weiter leerenden Malakoff-Park. Lediglich die Römerpassage scheint zu funktionieren. Die war allerdings schon vorher eine beliebte Einkaufsstraße.
Was die Planer offenbar nicht wissen: Man braucht Menschen, die ständig die ganzen Waren kaufen, in den Kneipen und Cafes rumsitzen und genug Geld in der Tasche haben, um alles zu bezahlen. Ähnlich verhält es sich mit den schicken Eigentumswohnungen, die – wohin man auch blickt – entstehen sollen. Niemand scheint sich zu fragen, woher die vielen reichen Leute kommen sollen, die sich bald am Mainzer Rheinufer und anderswo ansiedeln. Wenn die alle nach Mainz kommen, dann fehlen sie ja auch woanders. Wird dann Baden-Baden verarmen? Trotzdem ist die Grundidee verlockend. Die Flächen am Rheinufer werden mit teuren Luxuswohnungen bebaut und man kann ja noch eine künstliche Rheininsel in Form einer Brezel anlegen, um die Scheichs aus Dubai anzulocken. Bald geht es in Mainz zu wie in St. Moritz, die Reichen geben ständig ihr ganzes Geld am Ditsch-Stand aus, die Gewerbesteuer-Einnahmen sind so hoch, dass Mainz endlich außer der Fassenacht noch andere künstlerische und kulturelle Initiativen fördern kann … das wärs doch. Aber es bleibt doch ein Cargo-Kult. Und die Cargo-Kulte haben ja etwas Tragisches an sich, zumindest in der Südsee, weil das Neue nicht funktioniert, aber gleichzeitig das alte Wertesystem zerfällt. Und viele traditionelle Mainzer Kulte wären bedroht: Wer weiß, ob die schönen Reichen Interesse haben an der Fassenacht, an den 05ern oder am Mantelsonntag? So gesehen können wir froh sein, dass Cargo-Kulte ergebnislos sind, dass die erwarteten Effekte nicht eintreten, dass also Mainz Mainz bleibt. Das neue Wertesystem könnte die Stadtplaner sich darauf besinnen lassen, Mainz noch angenehmer zu machen, zum Beispiel für Kinder, Fahrradfahrer oder Behinderte. Da gibt es noch einiges zu tun, was die Stadt wirklich aufwerten würde.
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