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Monster to go: Die Mainzer Pokémon Go-Community

„Pokémon Go – gibt’s das noch?“ Wir besuchten die Mainzer Szene – die ist führend in Deutschland und sogar weltweit.

Als im Sommer 2016 die Firma Niantic ihr zweites Augmented Reality-Spiel „Pokémon Go“ startete, war der Hype groß: Meldungen und Videos von Menschen- Horden, die virtuellen Monstern hinterherjagten und dabei blind in der realen Welt umherstolperten – die einen waren begeistert, die anderen schüttelten den Kopf. Nach einigen Wochen und Monaten hatten jedoch viele das Interesse verloren. Verständlich: „Am Anfang war das Spiel nicht besonders toll, zu buggy, zu instabil und auf Dauer zu eintönig“, räumt Christian ein, einer der Gründer der Mainzer Community „Make Raids not War“. Der Spaß am Sammeln der geliebten Monster nutzte sich bald ab. Über die letzten Jahre wartete die Spielefirma aber nach und nach mit neuen Features auf. Mittlerweile ist das Arena-System ausgereifter, man kann als Spieler mit Maximal-Level standortspezifische Punkte („Pokéstops“ und Arenen) einreichen und InGame-Freundschaften schließen. Besonders spannend für Gruppen sind Raid- und PVP-Kämpfe. In Raids kapern besonders starke Monster die Arenen der Teams und können nur mit mehreren Trainern besiegt werden. In Player-Vs-Player-Kämpfen kann man taktisches Geschick und Fingerfertigkeit unter Beweis stellen und sich darin mit anderen messen. Der Clou an beidem ist, dass man sich tatsächlich physisch treffen muss. Nebenbei lernt man durch die Pokéstops auch urbane Details und Sehenswürdigkeiten kennen, zu denen es im Spiel Beschreibungen gibt. Wer sich also in den letzten Jahren gewundert hat, warum sich mittwochs 18 Uhr am Elektrofachgeschäft am Bahnhof immer 60 Leute mit Handys versammeln: Die haben Pokémon Go-Raids bestritten.

Internationales Turnier „London’s Finest“
2019. Hier hat auch der Mainzer Top-
Spieler „TheNut93“ mitgemacht

Mainz mit größter Gruppe in Deutschland
Tiffany und Christian haben die Mainzer Community „Make Raids not War“ 2017 ins Leben gerufen haben. Für den neuen Gruppenkampf waren Treffen dringend erforderlich. Sie richteten eine Telegram-Gruppe ein, in der man sehen kann, welches legendäre Monster gerade das Staatstheater, den Dom oder den Hechtbrunnen am Stadtrand besetzt. Auch Turniere haben die beiden schon im 7-köpfigen Team und mit weiteren Mitstreitern organisiert. Die weltweite selbstorganisierte Community „The Silph Road“ denkt sich dabei anspruchsvolle thematische Wettbewerbe aus und die Pokémon Go-Communities organisieren die Veranstaltungen dann lokal. Wo steht Mainz auf der nationalen und internationalen Pokémon-Bühne? In größeren Städten ist sicher noch mehr los und die richtig verbissenen Spieler wohnen in den USA oder Japan? „Nein. Wir sind die größte Gruppe deutschlandweit!“, so Tiffany nicht ohne Stolz. Die meisten Spieler seien um die 30 Jahre alt, also jene, die in den 90ern die Spiele gespielt und die Serie geguckt haben: „Kinder verlieren schnell das Interesse. Nach oben hin gibt es aber keine Altersgrenze! Edgar ist 67 glaube ich.“ Den Kanal mit dem Raid-Bot haben aktuell 1.800 User abonniert.

Mainzer auch weltweit führend
In den Turnieren, die „Make Raids not War“ in Weisenau veranstalten, steckt echtes Herzblut: Da werden pokéballförmige Kuchen gebacken und stylische Orden für Sieger gebastelt. Die Wettkämpfe werden moderiert und live ins Netz übertragen – für Hobby-Verhältnisse alles sehr professionell. Zu den Turnieren kommen übrigens nicht nur ambitionierte Mainzer, hier wurden auch schon europäische Meisterschaften mit Spielern aus Italien, den Niederlanden, Dänemark und England ausgefochten. „Wir haben auch einen Mainzer Top-Spieler!“ erzählt Tiffany. Der habe auch ein europäisches Turnier gewonnen. Sogar mehrere der weltweit erfolgreichsten Turnierspieler kommen aus Mainz. In der weltweiten Top 50 auf thesilphroad.com finden sich 3 Mainzer, davon zwei mit Rang 12 und 14 eng beieinander. „Aktuell ist das alles coronabedingt aber ziemlich eingeschlafen“, bedauert Christian. Die Veranstaltungs- und Versammlungseinschränkungen betrifft auch die Pokémon-Trainer. Die Spielentwickler haben das Spiel daher auf Corona-Betrieb umgestellt: Mittlerweile kann man von der Ferne aus in Raids kämpfen und Turniere bestreiten. „Aber es macht weniger Spaß vom Sofa aus. Es fehlt was“, sind sich Tiffany und Christian einig.

Für „MamaOfGlory1“ ist Pokémon Go ein
Ausgleich zum stressigen Alltag

Spieler aus allen Schichten
Nachdem ich mit den „Profis“ gesprochen habe, komme ich mir ein bisschen vor, als hätte ich die letzten zwei Jahre hinter dem Pokémon- Mond gelebt. Die Welt der internationalen Turniere ist faszinierend und neu für mich. Ja, zu besonderen „Community-Days“ bin ich auch mal mit meinen Geschwistern losgezogen, habe einen Tag lang Wiesbaden erkundet und dabei Unmengen von seltenen und starken Monstern gefangen und mit 200 Leuten gegen einen grünen Drachen gekämpft. Aber darüber wie die Community jenseits der im Spiel vorgesehenen Wege das Spiel noch ambitionierter verfolgt, muss ich staunen. Selbst Tiffany und Christian sind sich einig: „Es ist echt beeindruckend, wie manche das professionell spielen. Aber, das wäre mir zu zeitaufwändig.“ Muss Pokémon Go zeitaufwendig und kompetitiv sein? Nein. Spieler „MamaOfGlory1“ hat das Höchstlevel im Spiel, obwohl „erst“ Anfang 2019 angefangen zu spielen – auf Empfehlung ihres Sohnes. Er war es auch, der ihr den scherzhaften Nickname gegeben hat. „Ich spiele zum Entspannen und damit ich ein bisschen mehr laufe. Es ist wirklich ein Ausgleich für mich“, so MamaOfGlory. „Bei der Raidstunde mittwochs treffen sich alle am Hauptbahnhof und man geht gemeinsam die Arenen ab. Das ist erholsam nach langen Diensten.“ Bei solchen Gruppen- Kämpfen hätte sie auch schon einmal im Urlaub in Dubai total nette Leute kennengelernt. Sie selbst zählt sich zu den älteren Spielerinnen, aber hebt hervor, wie durchmischt die Community sei: „Ich persönlich finde den Spieler Monkeycat klasse: Er kommt sogar mit seinem kleinen Sohn im Tragetuch zu den Raids.“ Es gibt sie also noch, die Pokémon Go-Gamer. Auch das 2019er Augmented-Reality-Spiel der gleichen Entwickler zum berühmten Zauberlehrling konnte dem Vorläufer nicht annähernd den Rang ablaufen. Und auch wenn Corona aktuell die Suppe etwas versalzt, harren doch die meisten tapfer aus und freuen sich darauf, irgendwann wieder mit Freunden und Familien ins Getümmel zu stürzen.

Text Ulrike Melsbach Fotos Jonas Otte & „Make Raids not War“