von Hendrik Jung und Arne Landwehr (Fotos):
Nun, nach der Winterpause, gibt es wieder viele Gründe, in die Kasteler Reduit zu fahren. An dem historischen Ort, der auch ein Museum beherbergt, gibt es nun wieder Konzerte sowie den Mittelaltermarkt an Ostern und im Juni das Graffiti-Festival „Meeting of Styles“. Bei manchen Gastspielen kann es dem Publikum schon mal passieren, dass es von einer der Bands mit „Hallo Mainz“ begrüßt wird. Wie soll man auch wissen, dass man sich seit gut siebzig Jahren offiziell in Wiesbaden befindet, wenn man bei der Abfahrt Mainz-Kastel in sein Navigationsgerät eingegeben hat? Seinen Ursprung hat die verwirrende Situation – Mainz im Namen und doch zu Wiesbaden gehörend – am Ende des Zweiten Weltkriegs.
Im Zuge der Aufteilung in eine französische Besatzungszone auf der Mainzer Seite und eine amerikanische Besatzungszone auf der Wiesbadener Seite des Rheins wurden die drei Vororte 1945 verwaltungstechnisch der Stadt Wiesbaden zugewiesen. Damals ist man wohl davon ausgegangen, dass es sich bei dieser Regelung um ein Provisorium handeln könnte. Um eine mögliche Rückgliederung problemlos durchführen zu können, wurde damals ein eigener AKK-Haushalt eingeführt. Ein Konstrukt, das es eigentlich gar nicht geben dürfte, das aber nach wie vor Bestand hat. Nicht die einzige Besonderheit. So sind etwa in Kastel und Kostheim sowohl Mainzer Banken als auch Mainzer Stadtbusse und nicht zuletzt auch die Mainzer Ausgabe des sensor zu finden.
Und die rheinlandpfälzische Landeshauptstadt besitzt hier auch zahlreiche Grundstücke. Das muss nicht immer ein Nachteil sein. Martin Rudolf vom Turnverein Kostheim berichtet etwa: „Die Stadt Mainz hat uns sehr geholfen. Sie hat dafür gesorgt, dass der Boden sauber gewesen ist und wir bauen konnten.“ Das Gelände, auf dem das neue Sportzentrum des Traditionsvereins im vergangenen Jahr eingeweiht werden konnte, hatte zuvor ein Schrotthändler genutzt und daher Altlasten aufgewiesen. 3 Mio. Euro hat der Verein mit Hilfe der Stadt Wiesbaden und dem Land Hessen in den Kauf des Grundstücks und den Bau investiert. Mit der Folge, dass die Mitgliederzahl mittlerweile auf 2.150 angestiegen ist, davon mehr als ein Drittel Kinder und Jugendliche. Martin Rudolf ist selbst schon seit seiner Kindheit hier aktiv.
Mainz? Wiesbaden? Oder ganz was eigenes?
„Die Gespräche, die sich früher auf der Straße um Mainz gedreht haben, drehen sich immer mehr um Wiesbaden“, beobachtet der 43-Jährige weiter. Und er findet, dass sich zumindest in Kastel und Kostheim eine stärkere eigene Identität entwickelt. Das liegt seiner Meinung nach auch an dem Zuzug junger Familien. Noch sind die Mieten günstiger hier als in den Innenstädten. Großes Potenzial für ihn besitzt auch die geplante Wohnbebauung des ehemaligen Linde-Areals am Kostheimer Floßhafen. „Das kann ein eigenes Zentrum werden. Aber nur, wenn es nicht komplett zugebaut wird“, glaubt Rudolf. Bedenken, die auch in Kastel bestehen, wo in den kommenden Jahren ebenfalls mit der Entstehung von neuen Baugebieten zu rechnen ist.
„Ich sehe, dass es einen Mangel an bedarfsgerechtem Wohnraum gibt“, konstatiert Carolin Holzer vom Verein „Bürgerinitiierte Quartiersentwicklung Kastel Kostheim“. Bei der Entwicklung von Wohnquartieren werde häufig der Fehler begangen, dass diese zu sehr in sich geschlossen sind und zu wenig verbindende Elemente zur umliegenden Bebauung aufweisen. Um dem in Zukunft entgegenzuwirken, hat Holzer mit Gleichgesinnten den Verein gegründet. Gemeinsam hat man ein Konzept für das Gelände der Housing Area in der Wiesbadener Straße entwickelt. Dort ist zunächst die Unterbringung von Flüchtlingen geplant. Später könnte jedoch auf der gesamten, mehr als elf Hektar umfassenden Fläche ein neues Quartier entstehen. Der Verein wünscht sich hier alternative Wohnformen, ein Quartierszentrum mit Café und Einzelhandel sowie Maßnahmen zur Reduzierung des Verkehrs.
Mit zehn Erwachsenen und bald sieben Kindern ist auch die Gründung einer Baugemeinschaft in Arbeit. „Für mich ist das hier so ein bisschen das zukünftige Zentrum des Rhein-Main-Gebiets“, betont Carolin Holzer. Schließlich sei man hier unter anderem bestens an Frankfurt angebunden, ohne dass man dafür ein Auto benötigt. „Kastel ist weder Mainz noch Wiesbaden. Das ist was Besonderes, das ist mittendrin“, fügt die 32-Jährige hinzu. Ein weiteres Anliegen ihres Vereins ist ein Urban-Gardening-Projekt auf dem Gelände der Housing Area. Derzeit sei man dabei, Paletten zu organisieren, um bewegliche Hochbeete einzurichten. Bei dem für alle Interessierten offenen Projekt sollen auch Flüchtlinge integriert werden, so dass ein sozialer Raum entsteht.
Vor Schlafstadt-Status bewahren
Frische Ideen sind auch ganz nach dem Geschmack von Irmtraud Jungels: „Ich möchte nicht, dass AKK zu Schlafstädten werden. Da muss Leben stattfinden“, sagt die 61-Jährige. Damit meint sie nicht nur gesellschaftliches Leben, sondern auch die Tier- und Pflanzenwelt. Deshalb engagiert sie sich für den Cyperus-Naturpark im Biotop Petersberg, der in diesem Jahr sein 115-jähriges Bestehen feiert. Aus diesem Grund wird er derzeit für die bald beginnende Vegetationsphase besonders schön gemacht. Im Rahmen eines Seminars wird im April der Staudenhügel neu gestaltet, eine kleine Feuerstelle entsteht, damit Kinder Stockbrot backen können und die essbare Landschaft auf dem 12.000 qm großen Gelände soll erweitert werden.
Außerdem wird eine Tauschbörse für Pflanzen und alte Samensorten eingerichtet und Irmtraud Jungels überarbeitet gerade die Website des Parks, der ab Ostern wieder an Sonn- und Feiertagen geöffnet ist. Auch Tiere wie Mauereidechsen oder Eisvögel fühlen sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Tierpark Kastel in freier Wildbahn wohl. „Kastel ist eigentlich der Mittelpunkt zwischen Mainz und Wiesbaden. Es ist schade, dass es nicht im Mittelpunkt steht. Ich habe das Gefühl, wir sind so ein bisschen vergessen“, bedauert die Mutter dreier Kinder. Eine Einschätzung, die sie unter anderem an der Fällung der Ulmenallee auf der Maaraue festmacht, sowie daran, dass die Schulen in AKK vernachlässigt würden. Außerdem bedauert sie, dass es hier für den Nachwuchs keine Möglichkeiten mehr gebe, Abitur zu machen, seit die gymnasiale Oberstufe an der Wilhelm-Leuschner-Schule in Kostheim geschlossen worden ist. Dabei wirkt gerade die Schulzeit identitätsstiftend.
Nach Einschätzung der Journalistin Marion Mück-Raab ist die Identitätsfrage zumindest in Kastel und Kostheim nach wie vor von Bedeutung. Das werde schon daran deutlich, dass viele sich ein Autokennzeichen mit „WIMZ“ zulegen. Oder daran, dass hier bei den Fastnachtssitzungen über die Wiesbadener gelacht werde und nicht über die Mainzer. „Ich kenne ganz viele, die sagen: Am besten wäre Autonomie“, fügt die 55-Jährige hinzu. Ein schlechtes Gefühl hat sie im Zusammenhang mit dem geplanten Bau eines gemeinsamen Bürgerhauses für Kastel und Kostheim. Sie befürchtet, dass in diesem Zuge das alte Kostheimer Bürgerhaus abgerissen und der Platz darum, auf dem zurzeit unter anderem der Wochenmarkt stattfindet, komplett bebaut wird. Fraglich ist auch, was aus der dort untergebrachten Stadtteilbibliothek wird, in deren Förderverein sie sich engagiert. „Wir brauchen eine Bürgerschaft, die sich für kleinere Treffpunkte einsetzt. Da muss man drum kämpfen, die bekommt man nicht einfach so“, konstatiert Marion Mück-Raab.
Hamam als einzigartiges Angebot
Zu den außergewöhnlichen Bereicherungen, die in den AKK-Stadtteilen in jüngerer Zeit bereits entstanden sind, gehört das Hamam Omhara in Kastel – das einzige weit und breit. Seit knapp einem Jahr gibt es in dem Osmanischen Bad die Möglichkeit, zu schwitzen, sich massieren oder ein Peeling vornehmen zu lassen. Dabei werden die Gäste nach Geschlechtern getrennt. „Eine gemischte Sauna findet man überall. Aber es gibt Kunden, die sagen, wir kommen nur, weil es hier getrennte Tage gibt“, erläutert Hakan Cankarra, Chef des Familienunternehmens. Dafür kommen die Gäste zum Teil aus Frankfurt oder Koblenz.
Weit über die Region hinaus bekannt ist auch der Industriepark Kalle-Albert in Amöneburg. Auf einer Fläche von 96 Hektar existieren hier 5.600 Arbeitsplätze. Nun ist es der Betreibergesellschaft InfraServ gelungen, eine deutsche Tochter des chinesischen Kunststoffproduzenten Kingfa anzusiedeln. Rund 5 Mio. Euro investiert InfraServ dafür in die technische Gebäudeausstattung und die Anbindung der Produktion an das Strom- und Dampfnetzwerk des Standorts. Ab diesem Sommer sollen hier mit 30 Mitarbeitern Spezialkunststoffe hergestellt werden. Mit dem neuen Standort Wiesbaden bauen die Chinesen, die ihrerseits 10 Mio. Euro in Amöneburg investieren, ihre erste Produktionsstätte in Europa auf, um etwa die Automobil- und Elektroindustrie aus lokaler Produktion bedienen zu können. Möglich geworden ist das nur, weil ein Gutachten des Münchner Feng- Shui-Meisters Jie Qian bestätigt hat, dass die Bedingungen hier günstig sind. „Ein idealer Standort nach chinesischem Fengshui sollte von Gebirge umschlossen und einem Fluss umgeben sein, daher liegt der Industriepark Kalle-Albert an der Position goldrichtig“, heißt es da…
Leben mit der Industrie
Durchaus charmant findet auch Amöneburgs Ortsvorsteherin Maike Soultana ihren Stadtteil. Und zwar sowohl wegen der alten Industriedenkmäler, denen sie lediglich gerne ein bisschen Farbe verpassen würde, als auch wegen der Natur, die am Rheinufer zu finden ist. „Die Industrie hat erheblich aufgerüstet, was den Umweltschutz angeht“, findet die ursprünglich von der Mainzer Seite stammende Frau, die seit 1982 in Amöneburg lebt. Auch wenn es immer mal wieder ein bisschen Staub und Dreck gebe, habe sich die Situation doch deutlich verbessert. Und nach zehn Jahren als Ortsvorsteherin hofft sie darauf, dass es auch in Zukunft weiter besser wird – vor allem durch die geplante grüne Mitte, die zum neuen Zentrum des Stadtteils werden soll, das ausschließlich für Fußgänger und Radfahrer nutzbar sein und die bestehende Bebauung mit der neu geplanten Bebauung am Rheinufer verbinden soll.
„Ich hoffe, dass im Sommer die Bagger rollen“, meint Maike Soultana, die auch die geplante Anlage einer öffentlich zugänglichen Rheinterrasse zwischen der Hafenzufahrt der Dyckerhoff-AG und der Paddlergilde begrüßt. Nur wenige hundert Meter flussaufwärts, aber schon in Kastel gelegen, soll auch das ehemalige Gelände der Firma Gersch Bootsbau weiterentwickelt werden. Allerdings handelt es sich bei dem Gelände streng genommen um ein Gewässer. Was heute Rheinport Marina heißt, schwimmt hier seit 1959 mitten im Rhein. Fast 40 Jahre lang wurde dort ein alter Schaufelrad- Schlepper von der Familie Gersch als Werkstatt genutzt. Nun möchte Christian Kirk als Geschäftsführer der European Consult und Invest GmbH, die der neue Eigentümer des ehemaligen Bootsbau-Unternehmens ist, den Schlepper zum Restaurant- Schiff ausbauen.
Nur ein kleiner Teil eines Gesamtkonzepts, das auch die Umwandlung des ehemaligen Firmengeländes des Verpackungsherstellers Ludwig Clemens in ein Wohnviertel mit dem Titel „Rheinblick-Quartier“ beinhaltet. „Ich bin der Überzeugung, dass der Stadtteil in den vergangenen Jahrzehnten extrem vernachlässigt worden ist. Das hat er nicht verdient“, findet Kirk. Nach seinen Vorstellungen soll die Wohnbebauung durch Grün- und Erholungsflächen sowie eine Kindertagesstätte ergänzt werden. Auch die Anregungen der Bürgerinitiative „Leben am Fluss“ seien in seine Vorplanung eingeflossen.
Dieses Konzept überzeugt auch den gelernten Bootsbauer Rolf Gersch, der 1948 auf dem elterlichen Hausboot, damals noch in Schierstein, das Licht der Welt erblickt hat. Nach wie vor lebt er mit seiner Frau im Hausboot auf dem Werftgelände und freut sich daran, dass Angler hier nach dem Fischsterben früherer Tage wieder Welse von bis zu drei Metern Länge aus dem Wasser ziehen. Außerdem beobachte er von seiner Veranda aus Eisvögel und Kormorane, aber auch Füchse. „Man kann sich gar nicht vorstellen, wie viel Natur zwischen Mainz und Wiesbaden ist“, freut sich der 68-Jährige. Wo er lebt, da ist man dann wirklich mittendrin zwischen den beiden Städten, welche AKK umschließen.