von Meike Hickmann und Stefan Zahm (Fotos):
Innenstadt Mainz. Ladentüren öffnen und schließen sich, die Menschen trappeln träge in der Sonne und schlecken ihr Waffeleis. Da erhebt sich am Markplatz eine Stimme und eine temperamentvolle Arie donnert über das Pflaster, die Heunensäule scheint zu vibrieren unter der volltönenden Tenor-Stimme des wohl bekanntesten Mainzer Straßenmusikers: Herbert Wüscher. Möchte man mit ihm reden, muss man das Ende seines immer gleichen halbstündigen Auftrittes abwarten, bis er „kassiert“ hat.
Wüscher ist ausgebildeter Tenor. Nach einer Verletzung konnte er für ein Jahr nicht arbeiten und weil er für Hartz IV zu stolz war, ging er auf die Straße, um zu singen. Vollständig genesen, stellte ihn keiner mehr an. Straßenmusik gelte als unseriös, erzählt Wüscher mit Bitterkeit in der sonoren Stimme. „Aber ich will kein Mitleid von den Leuten, ich möchte, dass sie ihr Herz öffnen für meine Musik.“ Eine ältere Dame habe mal zu ihm gesagt, sie höre ihm lieber zu als ins Theater zu gehen, wo die Inszenierungen so komisch seien. Ein Obdachloser hat einmal gesagt, dass er nun weiß, warum reichere Menschen Geld bezahlen, um eine Oper zu sehen. Kinder und Jugendliche hören Straßenmusiker zum ersten und vielleicht nicht letzten Mal eine Opernarie, wenn sie ihn treffen. „Doch es gibt auch unpflegliche Leute, die behaupten, ich sänge Playback“, ärgert sich Wüscher. Lediglich die Orchesterbegleitung kommt aus der Anlage.
Meister der Tröten
Ein Saxophon erklingt mit einem Kontrabass und Akkordeon fröhlich in der Ferne. Die Musiker spielen am Haus des deutschen Weines und ziehen seit Monaten schon alle fünf Minuten weiter. Nicht jeder Gast freut sich über die musikalische Begleitung. Besonders nicht, als die drei Männer nach kurzer Zeit herumgehen, um Kleingeld zu erbeten. Gespräche werden unterbrochen, abwehrende Handbewegungen, ein paar wenige zücken hastig das Portemonnaie, mehr um sie loszuwerden als zu loben. Ein Kellner kommt mit in die Hüften gestemmten Armen vorbei und macht ihnen klar, dass sie verschwinden sollen. Auch als wie sie ansprechen, ernten wir verständnislose Mienen. Plötzlich kommt eine kräftige Frau aus dem Nichts herbeigeeilt, zischt, sie hätten keine Zeit zum Reden und zieht die Musiker weiter. Die Straßenmusik hat so viele dunkle Ecken wie die Stadt, in der sie spielt…
Kunstfertige Individualisten
Ein anderer Tag, noch sonniger, Nähe Dom. Ein junger Mann mit Dreadlocks spielt Gitarre und singt mit weicher Blues-Stimme. Ein anderer, mit lässigem Hut, sitzt auf einer Cajon und trommelt den Takt. Spricht man sie an, bieten sie einen Platz neben sich oder auf der Cajon an. Melchior Chomel und Luigi Conte sind zwei Erasmus-Studenten aus Frankreich und Italien. Sie machen gerne Musik zusammen und dachten sich, das könnte man doch auch mal vor Publikum ausprobieren. Ein Baby in einem Kinderwagen streckt die Arme aus und quietscht freudig, als es die Musik hört. Der Vater beugt sich herunter und schwingt seinem Kind die Rassel. Auch die Mutter wiegt hin und her, den Kinderwagen fest im Griff. Chomel und Conte sagen, sie mögen den Markt, sie haben Spaß und sie lachen viel beim Reden. Wenn noch mal die Sonne scheint, kommen sie wieder.
Russisch Blech
An der Treppe hoch zum Brand hat sich eine Menschentraube gebildet. Die kleine Nachtmusik tönt über den kleinen Platz. Wer den Prunk russischer Paläste noch nicht gesehen hat, kann ihn jetzt hören. Es sind „Neva Brass“, fünf Blechbläser aus Sankt Petersburg. Gut fünfzig Menschen lauschen andächtig und applaudieren nach jedem Lied. „Bitte, ich möchte noch ein Lied hören“, sagt eine Frau zu ihrem Mann, der sie zum geplanten Einkauf ziehen will. Jakob Dzedik verbeugt sich jedes Mal und kündigt das nächste Lied an: Rossini, Bach, Smirnow und zum Schluss ein bisschen Jazz. Das Quintett kommt jedes Jahr im Mai und August zu Besuch nach Mainz. Sie geben Konzerte, spielen auf Feiern und auch beim Orgel-Festival. Wenn sie die Lust packt, eben noch auf der Straße. „Wir spielen hier gerne, die Leute in Mainz haben Verständnis für gute Musik“, sagt Dzedik mit rollendem „R“.
Fröhliche Tschechen
Ein bisschen weiter weg, in der Nähe der Römerpassage, erklingt der Klassiker der Straßenmusik: Cello und Akkordeon, virtuos gespielt. Ein paar Volkslieder und Tänze, ein bisschen Yann Tiersen und immer mit einem Lächeln im Gesicht. Das ist das Duo Kocurek, Absolventen des Ostrauer Konservatoriums in Tschechien. Ihre Musik ist traditionell, nostalgisch und voller Spontanität und Lebensfreude. „Das ist die älteste und schönste Präsentation der Musik – sie direkt zu den Leuten zu bringen“, sagt Dagmar Kocurek und freut sich.
Die französischen Sängerinnen Édith Piaf und Zaz seien damit berühmt geworden. Das Duo spielt nicht nur auf der Straße, sondern auch auf Konzerten und Feiern. Oft reisen sie durch ganz Europa. „Aber das Mainzer Publikum ist das Beste“, sagt Dagmar Kocurek so strahlend, dass man es ihr gerne glauben möchte. Das Duo hat seine CD, die es auch auf der Straße verkauft, „Äpfelchen“ genannt – nach alter tschechischer Tradition ein Symbol der Liebe.
Cooler als kellnern
Mario Truss (Foto, oben) packt gerade am Kirschgarten zusammen. Er habe zu viele Ladenbesitzer mit seiner Musik verärgert, sagt er. Er möchte sich etwas zum Studium dazu verdienen und Musik machen sei doch „cooler“ als kellnern. Der einzige Nachteil: Mario kann seine eigenen Songs nicht mehr hören, weil er sie so oft singt. Ein paar Meter weiter packt er seine Gitarre, das Mikrofon und den Verstärker wieder aus und singt gecoverte, aber auch selbstgeschriebene Lieder, oft etwas melancholisch, nachdenklich, aber sehr melodisch. Seine 19 Jahre merkt man der tiefen, leicht kratzigen Stimme nicht an.
Eine Interpretation eines Ed Sheeran-Songs fügt sich so rührig in die gelassene Atmosphäre der Altstadt ein. Eine ältere, gebeugte Passantin in grauem Mantel, bepackt mit Einkaufstüten, schimpft jedoch: „Nehmen Sie auch Scheine, damit Sie aufhören?“. Truss lacht. Ein kleiner Junge zieht an der Hand seiner Mutter, als er vor dem Sänger stehen bleibt. Sie beugt sich hinunter, lacht ihren Sohn an, die Sonne scheint auf sein Haar. Sie gibt dem Jungen ein paar Münzen, der holpert auf kurzen Beinchen zu Mario. Dann fällt ihm auf, dass er gar nicht weiß, wo das Geld hin muss…
Nicht alle Straßenmusiker sind Profis wie Tenor Wüscher oder die russischen Neva Brass, nicht alle strahlen so viel Lebensfreude und Leidenschaft aus wie Chomel und Conte oder das Duo Kocurek, und kaum einer schreibt eigene Songs wie Mario Truss. Manchmal geht es mehr um das schnelle Geld als um Musik, oft sind sie ungebetene Gäste. Doch ohne Straßenmusiker würde die Stadt nur nach Eile und Konsum klingen, beraubt dieser Momente, wo man verträumt stehen bleiben und sich Zeit nehmen kann. Ein Pärchen bleibt vor Mario Truss stehen, der Mann legt den Arm um die Schulter der Frau, sie neigt ihren Kopf zu Seite. Straßenmusik ist letztlich etwas, das man ohne Forderung bekommt, mit einer meist nur still erwarteten Gegenleistung, das einem gefällt oder auch nicht – ganz gleich wie bei einem Geschenk.