von Ejo Eckerle Fotos Katharina Dubno
„Langfristig wird die Arbeit verschwinden. Wir sind mitten in einer Umwälzung, die die industrielle Revolution noch übertrifft. Selbst die billigste menschliche Arbeitskraft ist teurer als die Maschine.“ Diese provokante These stammt vom amerikanischen Ökonom Jeremy Rifkin, der auch die EU-Kommission berät. Noch haben die allermeisten Menschen Arbeit, aber es gibt einen über Jahre relativ stabilen Sockel, der auch nicht mit den elegantesten Rechentricks aus den amtlichen Zahlen verschwindet: der Anteil von Langzeitarbeitslosen. Sie sind so etwas wie die rosa Elefanten des Arbeitsmarktes. Jeder weiß, dass es sie gibt, sie stehen herum und viele tun so, als wären sie überhaupt nicht da. Eine große Anzahl jener Menschen, die lange ohne Job sind, werden das auch in Zukunft sein, weil der Arbeitsmarkt für sie verschlossen bleibt.
„Multiple Vermittlungshemmnisse“
Sozialdezernent Kurt Merkator sitzt als Vertreter der Stadt in der Trägerversammlung des Jobcenters. Zusammen mit seinen Kollegen beugt er sich da regelmäßig über die Zahlen – und die sehen für Mainz gar nicht mal so schlecht aus. Was dem Politiker Sorgen bereitet, sind jene 2.625 (Stand 2014) Langzeitarbeitslosen in Mainz, die in der Statistik auftauchen: „Die Hauptprobleme bei dieser Gruppe sind mangelhafte Schulqualifikationen, fehlende Abschlüsse, keine Ausbildung. Bei den Migranten kommen oft Sprachdefizite hinzu, dann auch immer mehr gesundheitliche Schwierigkeiten, Sucht, Schulden – manchmal auch alles zusammen.“
Merkator weiß sehr wohl, die Zahlen stehen für Menschen, Menschen wie Sarah R. (36 Jahre). Sechs Jahre ist es her, dass sie ihre Ausbildung zur Modedesignerin beendet hat. Richtig gearbeitet hat sie in diesem Beruf nie. Inzwischen lebt sie von Hartz IV. Heute kann die alleinerziehende Mutter relativ entspannt zurückblicken. Sie hat ihren Frieden mit sich und ihrem Schicksal gemacht: „Ich bin einem Ziel hinterhergerannt, das nicht mein Ziel war, denn sonst hätte ich es wahrscheinlich erreicht.“
Wir brauchen dich nicht!
Hinter Sarah liegen schwierige Zeiten. Versuche, sich selbstständig zu machen, scheitern, Mietschulden, offene Forderungen und psychische Probleme setzen die junge Mutter unter Druck. Ihre Jobsuche bleibt erfolglos. Die Aufmerksamkeit und der zeitliche Aufwand, die ein kleines Kind beanspruchen, zehren an ihren Kräften. „Die letzten zweieinhalb Jahre habe ich mehr gearbeitet als je zuvor, das Kümmern um meinen Sohn war ein Vollzeitjob.“
Frauen wie Sarah haben „multiple Vermittlungshemmnisse“, wie das in der Fachsprache der Arbeitsvermittler etwas beschönigend heißt. Gemeint sind Menschen, die erst einmal nicht die Rolle der universell und uneingeschränkt einsetzbaren Arbeitskraft spielen können. Wenn Anspruch und Realität sich nicht vereinbaren lassen, bleibt etwas auf der Strecke. Bezogen auf den Arbeitsmarkt betrifft das Menschen, denen man signalisiert: Wir brauchen dich nicht! So konnte der Personenkreis der Langzeitarbeitslosen von der insgesamt positiven, wirtschaftlichen Entwicklung, die Mainz genommen hat, kaum profitieren. Zwar ist die Gefahr geringer geworden, arbeitslos zu werden. Aber zugleich ist das Risiko gestiegen, arbeitslos zu bleiben.
Absturz und wieder auf Anfang
So unterschiedlich die Gründe einer lang anhaltenden Arbeitslosigkeit sein mögen, so verworren kann der Lebensweg der Betroffenen sein. Dafür steht wie keine andere die Geschichte des 29-jährigen Moritz G. Der junge Mann, oder in diesem Fall müsste es eigentlich heißen, der „Oldie“, lernt derzeit an einer Mainzer Berufsschule den Beruf des Assistenten für IT-Systeme. Vor elf Jahren, nach seinem Realschulabschluss, wechselt er auf das Gymnasium, doch das geht nicht gut. Seine Leistungen werden immer schlechter. Moritz verliert jede Lust auf Lernen und verlässt die Schule.
Moritz G. wächst in einem liberalen Umfeld aus. Seine Eltern lassen ihm viel Freiheit. Und die nutzt er vor allem, um sich auszuleben. Was er nach der Schule machen soll, weiß er auch drei Jahre später nicht. Mehr oder weniger sanfte Hinweise, sich doch mal da oder dort zu bewerben, fruchten nicht. Erst als ihm seine Mutter den Weg zu einer Ausbildung als Mediengestalter in Berlin ebnet, weckt es bei Moritz, mittlerweile 21 Jahre alt, die Lebensgeister. Berlin – verheißt ihm vor allem viel Spaß. Ein halbes Jahr nur und er schmeißt wieder hin. „Ich habe mich mehr für die Stadt als für die Ausbildung interessiert“, gibt er zu.
Er startet einen neuen Versuch am Frankfurter Bildungszentrum Hermann Hesse (BZH), eine schulischen Rehabilitationseinrichtung für junge Menschen mit Suchtproblemen, die einen Schulabschluss nachholen wollen. Moritz scheitert auch hier. Dann folgen, wie er heute sagt, verlorene Jahre: Phasen der Lethargie, Zeiten des Nichtstuns, des nicht mehr Weiterwissens. Graue Tage, ohne Ziel vor Augen. Eine Arbeitsmaßnahme bringt ihn mit dem Thema Webdesign in Berührung – immerhin, ein erster kleiner Fortschritt. Hat es Moritz geschafft, ist er jetzt angekommen im Leben? Er zögert: „Ich ärgere mich sehr, meine erste Ausbildung abgebrochen zu haben.“ Moritz ist nicht der Typ, der anderen die Schuld für sein Schicksal in die Schuhe schiebt. Aber er spürt den Druck, der auf ihm lastet. Verantwortung für sich selbst zu übernehmen musste er mühsam lernen – auf äußerst rauen Pfaden, wie es scheint.
Wunschtraum: Job auf Dauer
Die Reduzierung der Langzeitarbeitslosigkeit ist für das Mainzer Jobcenter in den kommenden Jahren ein geschäftspolitischer Schwerpunkt. Deshalb beteiligt sich das Jobcenter an einem Bundesprogramm, mit dem langzeitarbeitslose Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden sollen. Seit Kurzem stehen dafür Gelder des Europäischen Sozialfonds (ESF) bereit. Gelingen soll das ehrgeizige Vorhaben durch eine gezielte Ansprache von Arbeitgebern, die als Ausgleich eventueller Defizite Lohnkostenzuschüsse von bis zu 75 Prozent des Lohns erhalten können. Ein umfassendes Coaching der Arbeitnehmer vor und nach Aufnahme der Beschäftigung soll es dafür geben.
So genannte Betriebs-Akquisiteure machen sich in den nächsten Wochen und Monaten auf den Weg in die Unternehmen vor Ort, sprechen mit Geschäftsführern und Inhabern, werben für ihre Klientel. Die Mainzer Arbeitsagentur-Chefin Heike Strack hofft in ganz Rheinhessen bis zu 250 ihrer Kunden für diese Maßnahme gewinnen zu können. Zielgruppe sind Menschen, die mindestens zwei Jahre ohne Unterbrechung arbeitslos waren, mindestens 35 Jahre alt sind und über keinen verwertbaren Berufsabschluss verfügen. Eine besondere Förderung erhalten Personen, die bereits länger als fünf Jahre arbeitslos sind. „Wir wollen nicht den Quick Win, das Ziel ist eine dauerhafte Beschäftigung.“ Es gilt, einen Drehtüreffekt zu vermeiden. Vier Personen sind schon vermittelt: als Pflegehelfer, als Verkäufer in einer Bäckerei, Aufzugsmonteur, sowie eine Person im Wach- und Sicherheitsgewerbe.
Der Kampf ums Geld
Geld, das man hier in die Hand nimmt um Menschen in Arbeit zu bringen, scheint an anderer Stelle zu fehlen. Der Eindruck drängt sich auf, wenn man die Geschichte des Mainzer „Zack“ betrachtet. Nachdem das Jobcenter seine finanzielle Unterstützung einstellte, musste das Projekt der Caritas im Mai dieses Jahres schließen. In den Räumen der IT-Werkstatt reparierten zuletzt 37 langzeitarbeitslose Menschen PCs und brachten sie auf den neuesten Stand. Die Geräte erwarben anschließend Schulen oder Kindergärten gegen einen geringen Kostenbeitrag. Während der 16 Jahre seines Bestehens werkelten rund 600 Menschen bei „Zack“.
„Wir haben täglich erlebt, wie wichtig die Teilhabe am Arbeitsleben und somit die Möglichkeit an einer sinnvollen und wertgeschätzten Arbeit für Langzeitarbeitslose ist“, sagt Ulla Hahn, die damalige Leiterin. Sie arbeitet inzwischen in gleicher Funktion im Binger Caritas- Servicezentrum St. Antonius. Dort gibt es „Arbeitsgelegenheiten“ (1-Euro-Jobs) für Langzeitarbeitslose. Hier stammen die Zuschüsse aus dem Topf des Jobcenters Mainz-Bingen. Ob und wie es in den Räumen des ehemaligen Bauernhofs weitergeht, hängt immer wieder von einem aufwendigen Antragsverfahren ab.
Jeweils zum Jahresende beginnt das große Zittern für die Mitarbeiter. 54 Menschen finden Arbeit in einer Schreinerei und Großküche, die Kindergärten mit Mobiliar und Essen beliefern. Die Beschäftigten werden angeleitet von Pädagogen und Fachanleitern: „Die Fachanleiter sind stark gefordert. Oft müssen sie Menschen betreuen, die keine Struktur haben oder an Lernschwächen leiden. Fortschritte zeigen sich da häufig nur in sehr kleinen Schritten. Trotzdem wollen sie etwas tun“, so Ulla Hahn. Ihre Zielgruppe, sagt sie, steige: „Diese Menschen hat es schon immer gegeben, früher gab es für sie in der Industrie und im Gewerbe Nischen. Sie machten kleine Botendienste oder fegten den Hof. Diese Jobs sind mehr und mehr weggefallen.“
Das gilt umso mehr für eine Region, die zwar wirtschaftlich gut dasteht, in der aber auch in Zukunft kein großer Bedarf an Hilfskräften besteht. Im Gegenteil: Eine Studie der Arbeitsagentur stellt fest, dass bis 2030 rund ein Drittel aller Hilfsjobs in Rheinhessen wegfallen. Ohne einen dauerhaft geförderten Arbeitsmarkt, der diese Klientel auffängt geht es nicht. Wer Sozialdezernent Kurt Merkator darauf anspricht, erhält eindeutige Zustimmung: „Wir brauchen diesen zweiten Arbeitsmarkt. Es war ein Riesenfehler, diesen zu streichen.“ Eine Folge der Agenda 2010, die sich als Aufgabe gestellt hatte, das bundesdeutsche Arbeitsförderung- und Sozialsystem gründlich zu entlüften und alles, was nicht effizient genug erschien, mit „Kann weg“-Vermerken zu versehen. Heike Strack pflichtet dem Mainzer Sozialpolitiker bei: „Auch wir fordern einen zweiten oder dritten Arbeitsmarkt, allerdings nicht finanziert über die Beiträge der Arbeitslosenversicherung.“
Illusion Inklusion
Von einem Arbeitsmarkt, der sie nicht will, hat sich die 28-jährige Stefanie G. erst mal verabschiedet. Sie studiert im 5. Semester Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule Mainz. Nach ihrer Ausbildung zur Bürokauffrau schreibt sie rund 100 Bewerbungen. Weil aus Datenschutzgründen in ihrem Profil nicht vermerkt werden darf, dass Stefanie körperbehindert und auf den Rollstuhl angewiesen ist, bekommt sie von der Arbeitsagentur auch Stellenangebote zugeteilt, die völlig unpassend sind.
Arbeitsplätze, die im 3. Stock liegen, in Gebäuden ohne Fahrstuhl. Besonders ist Stefanie ein Jobangebot in Erinnerung, für das sie eigens einen Fahrdienst organisiert hatte. Vor Ort angekommen hieß es: „Sie können gleich wieder nach Hause fahren. Das Bewerbungsgespräch findet im ersten Stock statt. Hier gibt es keinen Aufzug.“ Der Personaler hatte wohl die Bewerbungsunterlagen nicht gründlich genug gelesen.
Stefanie kann von vielen ähnlichen Erlebnissen berichten. Hört man ihrem Redefluss zu, erhält man eine Ahnung davon, wie weit der Weg zur Inklusion noch ist. Stefanies Entscheidung, das Abitur zu machen, ist geprägt von der Idee, mit einem Studium ihren beruflichen Marktwert zu verbessern. Da sie bereits eine abgeschlossene Berufsausbildung besitzt, gibt es weder öffentliche Förderung noch Hartz IV für sie. Stefanie muss sehen, wie sie klar kommt. Glücklicherweise unterstützen sie ihre Eltern.
Zurzeit absolviert die junge Frau ein Praktikum im Wiesbadener Gesundheitsamt. Dafür musste sie einige Hürden überwinden. Die Behörde war als einzige Stelle bereit, die Studentin aufzunehmen. Ihre künftigen Berufschancen schätzt Stefanie so ein: Dort, wo sie jetzt ihr Praktikum ableistet, sieht sie keine Möglichkeiten, denn die Mitarbeiter müssen ihre Klienten auch zu Hause aufsuchen. Am wahrscheinlichsten, so glaubt sie, könne sie einen Arbeitsplatz in der Behindertenhilfe erhalten. Anfang Oktober kann Sarah R. endlich mit ihrem Sachbearbeiter bei der Arbeitsagentur über ihren Wunsch nach einer Umschulung zur Erzieherin sprechen. Sollte ein Berufseignungstest und das notwendige psychologische Gutachten positiv ausfallen, stehen ihre Chancen gut. Außerdem gelingt es ihr, einen Aushilfs-Job in einem Mainzer Inneneinrichtungsgeschäft zu ergattern. Bis Weihnachten läuft der Arbeitsvertrag. Was danach kommt, weiß sie nicht.