Mainz wächst und wächst. Vor allem im nördlichen Teil der Neustadt wird mit Hochdruck neuer Wohnraum geschaffen. 123 Wohnungen auf dem Gelände der alten Feuerwache am Barbarossaring sind bereits bezogen. 2020 sind weitere einzugsbereit.
Besonders spannend wird es bei drei Wohnprojekten der Wohnbau: Fast 400 neue Wohnungen entstehen in den nächsten Jahren im Gebiet zwischen Rheinstraße und Sömmerringstraße Nähe Zollhafen. Mittendrin der neue „Beethovenplatz“, umringt von 157 Wohneinheiten. Teil davon ist auch ein „Zuhause in Mainz“-Projekt der städtischen Gesellschaft. Unter dem Motto „Miteinander sorgenfrei leben“ wird Mietern ein Nachbarschaftscafé als Treffpunkt zur Verfügung gestellt. Ein Pflegedienst bietet rund um die Uhr mobile Pflege sowie andere Serviceleistungen, und ein eigens eingesetztes Quartiersmanagement kümmert sich um die Gemeinschaft. 40 Prozent der Wohnungen sind gefördert. Voraussetzung hier ist ein Wohnberechtigungsschein. „Die übrigen Wohnungen orientieren sich am Median des Mietspiegels“, sagt Wohnbau-Sprecherin Claudia Giese. Der Bau der Wohnanlage ist bereits gestartet. Derzeit untersuchen Archäologen die ausgehobenen Baugruben. Bis zum Spätherbst 2021 sollen die Wohnungen fertig sein, die Vermietung Ende 2021 beginnen.
Queer im Quartier
Etwas weiter südlich in der Wallaustraße 93: Hier steht der Rohbau für 61 Wohnungen, eine Kita und ein Familienzentrum. 40 Prozent sind gefördert, Anfangskaltmieten von 6,40 Euro pro qm oder 7,35 Euro für Menschen mit geringem und mittleren Einkommen. Fertigstellung: Anfang 2020. Ein Verein hat sich gegründet und 22 Wohnungen angemietet. Er nennt sich „Queer im Quartier“ – ein Wohnprojekt für gemeinschaftliches, queer geprägtes Leben. „Die Zusammenarbeit ist konstruktiv und von gegenseitigem Vertrauen geprägt“, sagt Claudia Giese vom Vermieter, der Wohnbau. Die Gruppe ist seit 2016 aktiv. Im Sommer 2017 haben sie den Verein aufgesetzt, der mittlerweile als gemeinnützig anerkannt ist. Die meisten Mitglieder sind queer, doch auch heterosexuelle Menschen sind willkommen. Familien, Paare und Singles jeglicher sexueller und geschlechtlicher Orientierung zwischen Anfang 20 und Mitte 60 zählen dazu. Das gemeinschaftliche Ziel ist es, einen diskriminierungsfreien Raum zu schaffen und gleichzeitig ehrenamtlich und generationenübergreifend aktiv zu sein. „Wir wollen nach außen ins Quartier wirken. Dabei geht es uns aber nicht nur um queere Themen“, erklärt Vorstand und Gründungsmitglied Andrea Acker. „Ob Vorlesestunden im Kindergarten, Hoffeste oder Hausaufgabenhilfe, wir wollen sichtbar sein.“ Zusätzlich zur eigenen Wohnung mietet der Verein eine Gemeinschaftswohnung. Maximal 30 Euro pro Kopf und Monat soll diese kosten und als Treffpunkt für alle Vereinsaktivitäten dienen. Dafür wird von den Bewohnern erwartet, ehrenamtliches Engagement zu zeigen. „Hier entsteht ein komplett neues Quartier“, so Andrea. „Es ist gut, dass wir als Verein die nachbarschaftliche Entwicklung im Blick behalten.“ Ähnlich wie beim Wohnprojekt „Vis à Vis“ auf dem Hartenberg (auch Wohnbau) sollen Aufgaben auf AGs im Verein verteilt werden. Außerdem ist eine Quartiersanbindung nach dem Bielefelder Modell geplant: mit Sozialstation, Pflegeeinrichtungen und Hausarzt in direkter Nähe. Die Wohnungen sind barrierearm und per Rollstuhl erreichbar. Eine anfängliche Sorge war die begrenzte Anzahl an Parkplätzen. Doch durch die gute ÖPNV-Anbindung und Carsharing-Angebote hatte sich das bald erledigt. Einige Mieter haben sich zudem entschieden, künftig auf ein eigenes Auto zu verzichten.
Um dem Verein beizutreten, müssen Anwärter an einem gemeinsamen Wochenende teilnehmen – WG-Casting im großen Stil. In Kennenlernspielen und Gesprächsrunden stellt sich für beide Seiten heraus, ob sie sich den Einzug vorstellen können. Aber auch konkrete Aspekte des Zusammenlebens stehen auf der Tagesordnung, etwa die Entwicklung einer Hausordnung. Bei einer Dreiviertelmehrheit und keinen Gegenstimmen sind die Bewerber angenommen. Dann sind noch einmal 500 Euro fällig, die in die Einrichtung der Gemeinschaftswohnung fließen. Bisher sind 15 Wohnungen durch aktuell 20 Mitglieder belegt.
Sozial – kulturell – soziokulturell
Ein weiteres Projekt ist die Sanierung und Umwandlung der Kommissbrotbäckerei. Das imposante Gebäude der ehemaligen Heeresbäckerei an der Rheinstraße 111 gegenüber vom Zollhafen wartet begierig auf eine neue Nutzung. Auf dem rund 9.300 qm großen Gelände sollen Wohnungen, Gewerbeeinheiten und die geplante „Kulturbäckerei“ entstehen. Aktuell zielt die Planung der Wohnbau auf 145 Wohnungen ab, davon 50 gefördert. Der Verkauf der Bundesimmobilie wurde Ende Mai vom Bundestag abgesegnet. Über den finalen Kaufpreis wurde Stillschweigen vereinbart. In den nächsten Monaten werde man die Pläne für das Projekt entwickeln und mit allen Beteiligten abstimmen. Wie die Geschäftsführung im Dezember 2018 noch bekannt gab, wollte sie mit der Stadt insgesamt 50 Millionen Euro investieren. Im Sommer 2021 sollen die Baumaßnahmen beginnen. „Die Wohnbau will das neue Quartier ab Sommer 2023 in die aktive Nutzung bringen“, stellen Thomas Will und Franz Ringhoffer, Geschäftsführer der Wohnbau, in Aussicht. Vier der fünf Gebäudeeinheiten sollen in Wohnungen umgewandelt werden. Das ehemalige Bäckereigebäude mit den zwei Türmen könnte dann zum soziokulturellen Zentrum werden. Bei dieser Neugestaltung stehe man in engem Kontakt zum Verein ‚Kulturbäckerei‘, der die Räume mieten und an Akteure untervermieten will“. Die Kulturbäckerei ist als Kunst-, Kulturhaus und Stadtteilzentrum geplant. „Soziokulturelle Zentren waren vor allem in den Achtzigern populär“, sagt Jürgen Waldmann, der gemeinsam mit Joachim Schulte, Eva Trost-Kolodziejski und Peter Schulz den Vorstand des Vereins stellt. „Heute ist das Modell etwas in Vergessenheit geraten. Aber diese Zentren sind immer noch wichtig.“ Soziale und Kultur-Aspektesollen in den denkmalgeschützten Mauern eng verzahnt sein. Denn nicht nur die Mainzer Kultur klagt über Platzmangel. Auch im sozialen Bereich gibt es einen hohen Bedarf, weiß Eva Trost-Kolodziejski. Seit den Achtzigern kennt sie die Neustadt und ihre Menschen, ist in Sozial- und Stadtteilarbeit aktiv. „Wenn die Leute sich begegnen, anstatt aneinander vorbei zu leben, verändert sich etwas im Stadtteil. Solche Angebote helfen dabei.“
Partizipieren statt Konsumieren
Die Angebote der Kulturbäckerei sollen sich an den Bürgern der Neustadt orientieren. Im Keller sind Proberäume geplant. Das Herzstück aber bildet die große Halle im Erdgeschoss. Hier könnte eine Art „Bürgeratelier“ entstehen, ein offener Raum, der auf verschiedenste Art genutzt wird. Das Dachgeschoss soll als Veranstaltungsraum buchbar sein, etwa für Familienfeiern. In den Seitenflügeln der Bäckerei gäbe es weitere, kleinere Räume und ein Café; gut vorstellbar wäre auch einInklusionsbetrieb. Dabei soll keiner der Räume dauerhaft durch eine Mietpartei belegt werden, sondern regelmäßig wechseln. Professionelle Künstler, die die Räume als Atelier, Proberaum oder Ausstellungsfläche nutzen, erklären sich damit auch bereit, etwas für das Quartier zu bieten. Malkurse, Workshops oder multimediale Projekte – der Fantasie werden keine Grenzen gesetzt. „Viele Bewohner der Neustadt haben wenig Bezug zu Kultur. Wenn es aber vor ihrer Haustür stattfindet, sie selbst Kultur machen können, lernen sie sich dabei auch gegenseitig besser kennen“, weiß Eva Trost-Kolodziejski.
Finanzierung als nächste Herausforderung
Die nächste große Aufgabe ist die Klärung der Finanzierung. Da die Angebote für die Neustädter niedrigschwellig gehalten werden sollen, ist die Kulturbäckerei auf Sponsoren angewiesen. Vom Land Rheinland- Pfalz erhält der Verein eine Förderung von jeweils 10.000 Euro für die Jahre 2019 und 2020; die Zollhafen GmbH stiftet je 12.000 Euro für die ersten beiden Jahre. Mit diesem Geld finanziert er die Suche nach langfristigen Stiftern, um die Jahresmiete von 300.000 bis 400.000 Euro zu stemmen. Von der wirtschaftlich arbeitenden Wohnbau ist schließlich kein Freundschaftspreis zu erwarten. Doch der Verein sieht auch die Stadt in der Pflicht, das Projekt zu unterstützen: „Wohnraum alleine macht noch kein Viertel. In einem Stadtteil, wo so viel neu gebaut wird, leisten wir ein Stück Stadtentwicklung“, sagt Joachim Schulte. Indem man eine solche Begegnungsstätte schaffe, bringe man auch junge Menschen weg von der Straße. Weniger Isolation bedeute auch weniger gegenseitige Entfremdung und infolgedessen weniger Kriminalität. Eine Zwischennutzung hat es bisher – außer als Flüchtlingsunterkunft – nicht gegeben und ist auch während der Bauarbeiten nicht möglich. Die Räume werden von Archäologen und Architekten beansprucht. Allerdings plant der Verein noch dieses Jahr eine erste Veranstaltung vor Ort, bei der sich Interessierte ein Bild von den Flächen machen können.
Text Ida Schelenz Fotos Stephan Dinges