Wer an HipHop der 90er denkt, hat vielleicht Künstler der West-Coast im Kopf. Man denkt an 2Pac, Dr.Dre und Snoop Doggy Dogg. Doch auch in Mainz hatte sich zu dieser Zeit eine kleine Szene gebildet. Zuvor fristete Deutschrap jedoch eher ein Schattendasein: Labels, Sender und Verlage zeigten kaum Interesse. Alles änderte sich Anfang der 90er. In Mainz spielte dabei vor allem das Unternehmen MZEE eine Rolle. Der Name ist eine Anlehnung an die Autokennzeichen München (M) und Mainz (MZ) sowie die englische Aussprache von MC. Gründer Akim Walta (aka Zeb.Roc.Ski / Zebster) begann 1992 mit der Veröffentlichung des Mzee Magazins (eigentlich ein Fanzine). Ralf Kotthoff, ursprünglich als Grafiker zu dem Projekt gekommen, übernahm bald die Geschäfte des Mzee-Mailorders, während Akim das Schallplattenlabel Mzee-Records aufbaute (u.a. Advanced Chemistry, Stieber Twins, Massive Töne und Die Klasse von 95). Im November 1990 startete die allererste Party in München. Und daraufhin nur eine Woche später mit gleichem LineUp in Mainz. Heute ist MZEE nur noch im Internet präsent. Dennoch war die Sache die Initialzündung für die Etablierung der hiesigen HipHop-Szene. Seitdem ist viel Wasser den Rhein hinuntergeflossen. 1995 wurde in Wiesbaden die Idee für das Meeting of Styles-Festival geboren. Das Event, welches derweil in sechzehn verschiedenen Ländern stattfindet, ermöglicht Graffiti- Künstlern ihr Können unter Beweis zu stellen. Partyreihen wie das PhatCat im RedCat oder die Blockpartys (zuerst an der Uni, später im schon schön) halten HipHop in Mainz am Leben. Seit 2010 sendet das Mainzer Label Sichtexot seine Tracks in die Welt. Die Fabioulous Dance Company sorgt für Breakdance Moves und der bekannte Produzent Shuko stammt von hier und hat seine Beats schon auf Alben von Cro, Casper, Sido und vielen weiteren verewigt. Nachdem es hin und wieder ruhiger geworden war, was auch einem Mangel an Veranstaltungsorten zuzuschreiben ist, knüpft man seit geraumer Zeit wieder an die Tradition aus den 90ern an. 2020 zog das Blend-Festival, was eigentlich aus Frankfurt kommt, in das Alte Postlager um. Erstmalig sollte auch die „Lack n Loops Jam“ stattfinden. Zudem tritt eine neue junge Generation an Künstlern auf den Plan wie beispielsweise Mimi oder die Flaco Gang. Für andere junge Künstler wie Nepumuk, SDSK, Casaoui und Negroman war Mainz der Anfang und vielleicht heute noch die Base. Was hat sich seit den 90ern in der Mainzer Szene verändert?
Das ist alles erst der Anfang
Mehr Trap als Rap, mehr Gefühle als hartes Gangstergehabe – so könnte die Antwort der FlacoGang lauten. In einem Hinterhof findet unser Fotoshooting statt. Die Stimmung ist entspannt. „Soll ich auf dem Bild rauchen? Ich rauche eigentlich immer“, sagt einer der Männer. Am Himmel kündigen sich Regen über kleine schwarze Wolken an, die sich in den Pfützen auf dem Parkplatz spiegeln. FukkYou setzt noch schnell seine Sturmmaske auf: „Nicht erschrecken, die trage ich als Künstler immer.“ Er ist erst nach seiner Zeit in Haft zu den anderen gestoßen. Bezüglich seiner wahren Identität hält er sich zumeist bedeckt. Mit ihm, Nasjo, Zeb und Haku118 ist die Flaco Gang fast komplett. Der fünfte Mann lebt seit einiger Zeit auf Mallorca, von wo aus er immer noch rappt, produziert und vor allem managt. Sein Name Geeno dürfte unter Mainzer HipHop Fans bekannt sein. Weil Geeno ein schlanker, großer Mann ist und weil schlank und groß auf Spanisch „flaco“ heißt, kam die Gang zu ihrem Namen. Ihr musikalischer Stil unterscheidet sich, denn jeder macht ein bisschen sein eigenes Ding, releast eigene Alben und dennoch profitieren alle voneinander. Auch an Nasjos kürzlich erschienenem Cloud Rap Album „Kein Cash White Trash“ ist die ganze Gang beteiligt. Die Texte berühren, weil die Geschichten dahinter echt sind: „Wenn man im harten HipHop Kosmos offen Schwäche zeigt, wird das immer noch viel zu oft ins Lächerliche gezogen. Da versuche ich mit Konstanz und Ehrlichkeit gegen anzukämpfen.“ Die Flaco Gang fängt sich so gut es geht gegenseitig auf. Besonders schwierig war eine Phase, nachdem ein guter Freund 2017 an Silvester bei einem Autounfall verstarb. Der Track „Ein Stück“ handelt von dessen Tod. „Der Track ist auf mich bezogen und erzählt, wie es mir damit geht, dass er nicht mehr da ist. Die letzte Zeile heißt: „Du warst ein Kind, ich werde erwachsen, leider.“ Neben Abschied geht es auf dem Album jedoch auch um Aufbruch. Um einen Aufbruch im Sound (mehr Trap als Rap) sowie um einen Aufbruch im Leben generell. Es endet mit „Wir haben diesen Winter überlebt“. Aufgebrochen werden dabei auch verhärtete Rapper-Klischees.
Mimi und Empowerment
Mehr Sichtbarkeit für Frauen, mehr Support und Empowerment, so würde Mimi klingen. Die Mainzerin rappt und singt am liebsten auf LoFi-Beats. Sie liebt Musik und dennoch geht es ihr bei HipHop um mehr als das: nämlich um eine Connection zur Szene. „Die ganze Subkultur, die dahintersteht, mochte ich schon früher. Wenn ich irgendwo an einem Graffiti vorbeikam, habe ich immer schon eine Sehnsucht verspürt. HipHop ist sehr echt und direkt.“ Mimi macht schon lange Musik, war in Berlin und Leipzig auf Tour und steht auf verschiedenen Bühnen. 2017 hat sie Menschen kennengelernt, bei denen sie aufnehmen konnte. Das hat für sie vieles erleichtert. Ihr ist ihre Unabhängigkeit wichtig. In den Tracks heißt es beispielsweise: „Du hast nicht an mich geglaubt und jetzt raste ich halt aus und bringe abstrakte Weiblichkeit in jedes Powerhaus.“ Oder: „Ich bin mit allen von euch down außer mit denen, die keine Achtung haben vor Frauen.“ Dabei gibt es viel mehr weibliche Rapperinnen, als viele denken. Ist es in der Szene für Frauen schwieriger sich zu beweisen? „Ich denke, das ist so wie in allen männerdominierten Jobs, dass es für Frauen immer ein bisschen schwieriger ist, weil wir in einer Gesellschaft leben, wo die Strukturen das bedingen. Ich würde sagen, das ist im HipHop ähnlich. Deswegen ist es umso schöner und cooler, wenn Frauen sich untereinander connecten und supporten und nicht mitspielen, bei diesem Spiel.“ Zusammenhalt erlebt sie zumeist in der HipHop Szene, die nach ihrem Empfinden sozialer und offener geworden ist. Isolation gebe es in der Gesellschaft schon genug: „Leute wahren Abstand, wohnen in ihren Wohnungen nah beieinander und sind doch einsam. Das wollen wir nicht.“
Die Jünger des Sichtexotheismus
Viele kennen das Sichtexot-Logo, die Kleidung oder Partys. Wenige wissen, dass ein Rap Label dahintersteckt. Es hat seinen Sitz in Mainz und feiert 2021 sein zehnjähriges Jubiläum. Anton, einer der beiden Inhaber, erzählt bei einem Kaffee, wie alles angefangen hat. Seine Freunde und er haben schon lange Musik gemacht. Nachdem der Rapper Tufu 2010 sein erstes Album fertigstellte, musste ein Label her. So wurde kurzerhand ein eigenes gegründet. Über Nacht entwarfen sie das Logo und Tufu wurde indirekt Initiator. Ganz klein fingen sie an. Das Lager für Schallplatten und Kleidung bestand zunächst nur aus Ikea- Regalen im WG-Zimmer. „Dort haben wir uns dann einmal die Woche getroffen und Pakete gepackt, mit der Hand die Adressen daraufgeschrieben und mit Karren zur Post.“ Das würde heute nicht mehr funktionieren. Das Label ist gewachsen und der Versand wurde outgesourct. Mittlerweile sind um die 20 Künstler bei Sichtexot gesignt. Dass das Label so organisch wachsen konnte, liegt unter anderem auch daran, dass die Betreiber nie finanziell darauf angewiesen waren. Beide haben Fulltime-Jobs und arbeiten für das Label zumeist nachts. „Es ist uns bewusst, dass es ein Luxus ist, finanziell unabhängig zu sein. Wir mussten nie einen Deal mit Leuten eingehen, auf die wir keinen Bock hatten. Wir sind unserer Linie treu geblieben.“ Worin genau diese eigene Linie besteht, lässt sich gar nicht so leicht in Worte fassen. Der „Sichtexotheismus“ war dabei immer schon ein Wortspiel. Das ist natürlich nicht so ganz ernst gemeint. Es mystifiziert und beschreibt einen Zusammenhalt, trotz unterschiedlicher Stile. Die Texte sind philosophisch, ironisch, kryptisch oder auch sozialkritisch. Anton: „Seit zwei, drei Jahren bewegt sich auch hier in Mainz etwas, trotz Clubsterben. Und ich habe gemerkt, dass es auch Spaß machen kann, mehr in der Stadt zu machen.“ Also, was hat sich seit den 90ern geändert? Ein HipHop Label hat sich etabliert!
Erste Zeilen hinter Gittern
Ein aufgehender Stern am HipHop Himmel ist auch Casaoui. Mit Musik hat er während seiner Zeit in Haft begonnen. Den gebürtigen Mainzer zog es nach Schule und Ausbildung zunächst auf die Straße: Überfälle. Die liefen so lange gut, bis einer aus der Crew „gezwitschert“ hat. Mit nur 18 Jahren wurde Casaoui inhaftiert. Drei Jahre und acht Monate waren angesetzt. „Das schlimmste am Knast war nicht der Knast, sondern die Dauer.“ Erst war er von negativen Energien in Beschlag genommen. Doch dann, im zweiten Jahr, habe er sich erwachsener und anständiger gefühlt. Zukunftspläne mussten her. Der erste Kontakt mit Musik kam durch Mithäftlinge zustande: „Die haben alle gerappt und sind diesen Film gefahren. Die haben halt das erzählt, was die gemacht haben.“ Auch Casaoui hat seine Erfahrungen dann in Zeilen aufgeschrieben, gerappt und schließlich anderen gezeigt. So entstand sein erster Track noch in dieser Zeit. Schon während der Lockerungen im Gefängnis wurde (s)ein erstes Video gedreht. Wegen guter Führung wurde er schließlich früher entlassen. Und heute? „Viel zu jung wurde ich inhaftiert“, beginnt einer seiner Tracks. Weiter geht es mit: „Damals Krisen, heute leben wir wie im Paradies.“ Derzeit verbringt Casaoui viel Zeit in Marokko. Dort liegen seine Wurzeln und auch sein Künstlername ist eine Anlehnung an Casablanca. Außerdem machte er erste Jobs als Model. Die Musik soll jedoch im Vordergrund bleiben. Mit leichtem Einfluss aus R&B und seinem dunklen, langen Haarschopf erinnert sein Auftreten ein wenig an eine Version von Apache 207. Dass Apache, Marteria, Juju und andere radiotauglich geworden sind, sagt so einiges aus über deutschen HipHop: Musikalisch hat seit den 90ern eine Anpassung an den Mainstream stattgefunden. Und das, obwohl sich ironischerweise der Mainstream mit den Texten über Ghettokindheit, Knast und bipolare Störungen kaum identifizieren kann. Die Mainzer Underground Szene bietet zudem Vielfalt. Hier treffen unterschiedlichste Einflüsse aufeinander. Zwischen Trap, Cloud und Gangsta Rap, politischen und philosophischen Zeilen ist für beinahe jeden etwas dabei. Und sogar der Mainzer Landtag will beim Thema Sprechgesang ein Wörtchen mitreden. „Politik vom Bordstein bis ins Parlament“ nennt sich ein neues Format, in dem der Rapper Nils Zeizinger in kurzen Videos versucht, jungen Menschen Politik näherzubringen – auch wenn das nicht mehr „underground“ ist. Wie oder wo auch immer: Ein paar Klicks lohnen, um eine neue Generation Künstler zu entdecken. Die Mainzer HipHop Szene lebt und hat sich seit den 90ern wandelbar gezeigt.
Text Lena Frings Fotos Simon Spieske