von Monica Bege
Fotos: Frauke Bönsch
„Bitte Wanne ausspülen und Fenster aufmachen“ – der Zettel ist von Simon und hängt an der Badezimmertür. In einer Wohngemeinschaft mit fünf Männern bleibt auch mal das benutzte Geschirr stehen. Irgendjemand erbarmt sich und räumt es weg. Soweit völlig normal. Das Besondere im Haus am Schollberg sind die Bewohner. Die Verrichtung typischer Alltagssituationen ist ihnen aufgrund von Funktionsbeeinträchtigungen oder –mängeln schwer oder gar nicht möglich. Ein Leben mit Epilepsie, dauerhafter ambulanter psychologischer Behandlung oder der notwendigen Einnahme von Psychopharmaka müssen sie akzeptieren – auch den Kampf gegen gesellschaftliche Vorbehalte: Sie sind behindert.
Gewinn an Lebensqualität
Außer dienstags schaut täglich eine Sozialpädagogin bei Sven Braun, Ralf Donaj, Simon Eyrond, Benjamin Kihl und Sascha Rocker vorbei. Termine werden besprochen oder gemeinsam wahrgenommen, Großeinkäufe erledigt, Probleme gelöst. „Ansonsten machen wir uns überflüssig. Für Notfälle gibt es ein direkt mit den Johannitern verbundenes Rufsystem“, so Thomas Junkes, Bereichsleiter Ambulantes Wohnen der Werkstätten für Behinderte (WFB), die 15 solcher Wohngemeinschaften betreut. Für Beeinträchtigte der erste Schritt zur Selbstständigkeit: die Loslösung vom Elternhaus. Das Angebot könnte größer sein, wäre bezahlbarer Wohnraum in Mainz leichter zu finden.
Dass hier nur Männer wohnen, ist Zufall. „Ja, Frauen wären auch okay“, sagt Simon. Er ist 47 Jahre, lebt seit 1990 in WGs. Manche Bewohner ziehen irgendwann in Paar- oder Einzelwohnungen. Freie Zimmer vermittelt die WFB, über den Einzug jedoch entscheiden Bewohner und potenzieller Neuzugang selbst.
Kraftakt Alltag
Die Männer fahren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit. In der WFB Hechtsheim ist Ralf in der Mikroverfilmung und Sven bei den Montagearbeiten, Simon fräst, bohrt und sägt als Schlosser in der WFB Niederolm, Benjamin sortiert die Bücher in der Unibibliothek an den richtigen Platz zurück, übernimmt dort auch Hausmeistertätigkeiten und Sascha macht derzeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ein Praktikum im Bereich Landschafts- und Gartenbau. Ja, und es kann jeder lesen und schreiben, einige haben einen PC und chatten im Internet. Sie sind es gewohnt, verkannt und unterschätzt zu werden. Nicht immer ist das Fell dick genug, Ralf macht das Getuschel hinter seinem Rücken zu schaffen: „Die denken wohl, ich höre das nicht oder ich sehe ihre komischen Blicke im Bus nicht. Als ob ich einen ansteckenden Bazillus hätte.“ Solche Momente kosten viel Kraft und Energie.
Organisation
Während es morgens im Bad eng werden kann, müssen sich die Herren abends in der Küche ebenfalls arrangieren. Werktags kochen sie meist für sich selbst. Schnitzel, selbst gemachte gefüllte Frikadellen, Würstchen – Ralf hat sich heute schon die Zutaten für sein Omelette mit Speck zurechtgelegt. An Wochenenden stehen sie oft gemeinsam an Topf und Schneidebrett und laden andere vom Betreuten Wohnen zum Essen ein.
Das blaue Rädchen an der Pinnwand im Esszimmer regelt die Einteilung der wöchentlich wechselnden Haushaltsdienste, die Waschtage sind vorgegeben und in Absprache kann getauscht werden. Wer sich nicht daran hält, bekommt gleich Ärger mit den Kollegen.
Zum Monatsanfang zahlt jeder 110 Euro in die Haushaltskasse ein. Das Geld lagert im Tresor und wird von Simon verwaltet. Er heftet Ausgabenbelege ab und notiert die Zahlungsvorgänge in einem kleinen Heft. Die eingekauften Lebensmittel sind für alle da und Alkohol ist tabu.
Unter einem Dach
Sascha ist 25 Jahre, Ralf fast fünfzig, der Rest liegt altersmäßig dazwischen. Die Interessen sind unterschiedlich, aber sie verstehen sich gut und kleine Reibereien gibt es schließlich überall. Ihre Zimmer sind bunt, dekorativ, jugendlich oder zweckmäßig – je nach Geschmack. Eingerichtet mit Unterstützung, aber ohne Bevormundung. Benjamin hat Poster aufgehängt, Fußball und Torwarthandschuhe liegen hinter der Tür. Aber eigentlich spielt er lieber im Feld. Simon hört oft Musik – nicht ganz so laut wie Sascha – und zieht sich gerne auf den nicht isolierten Speicher zurück. Weder drückende Hitze noch klirrende Kälte halten ihn ab, an seinen verschiedenen Legolandschaften zu bauen. An Svens orangen Wänden sind kleine Setzkästen mit seiner Matchboxauto-Sammlung angebracht. Ist seine Freundin nicht gerade zu Besuch, kümmert er sich um den Garten. Hätte er einen Wunsch frei, würde hier ein Pool stehen. Die Idee findet Zustimmung, aber auch ohne Wasserspiele sind hier eigentlich alle ganz zufrieden.