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Das Maß der Dinge – Ein Generationenporträt zum Thema „Älter werden“

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von Neli Mihaylova und Katharina Dubno (Fotos)

Die Morgensonne strömt durch die deckenhohen Fenster des Aufenthaltsraumes. Einige Bewohner des Mainzer Altenheims sitzen im Kreis und unterhalten sich. Es riecht nach Kaffee und Putzmitteln. Um kurz vor zehn beginnt die Zeitungsrunde. Die letzten verspäteten Teilnehmer nehmen ihre Plätze im Kreis ein. In einer Ecke des Raumes sitzt Wilhelm und hält ein Nickerchen. Im Rollstuhl neben ihm schaut seine Frau Anneliese ins Leere. Vor einiger Zeit wurde bei ihr Demenz diagnostiziert. Wilhelm ist deswegen vor anderthalb Jahren zu ihr ins Altenheim gezogen. Jeden Morgen holt er sie aus ihrem Zimmer ab, geht mit ihr frühstücken und raus spazieren. Am Nachmittag zeigt er ihr alte Fotoalben und erzählt von einer Vergangenheit, an die sie sich immer weniger erinnern kann.

Rückblickend das Gute sehen

„Wenn man will, kann man immer nur das Schlechte im Leben sehen. Aber ich bin nicht so. Ich habe nur Augen für das Gute“, sagt Wilhelm, steht auf und schiebt, sich auf den Rollstuhl stützend, seine Frau in Richtung Flur. In diesem Jahr ist er 87 geworden. Seine erste Leiche sah er mit 15. Damals, im Zweiten Weltkrieg, war er im Saarland stationiert. Zum ersten Mal weit weg von seiner Familie. Seine Eltern wussten nicht genau, wo er war und ob er zurückkehren würde. Die Tage und Nächte an der Front haben ihn geprägt. Die vielen Tote, die Angst, das Sterben. Diese Zeit war die Schlimmste in seinem Leben, erzählt er. Aber der allgegenwärtige Tod hat ihn auf wundersame Weise zu einem Optimisten gemacht. „Wenn du das alles gesehen hast, sind die Alltagsprobleme später überhaupt nicht mehr wichtig.“

Wilhelm ist mit seiner positiven Lebenseinstellung keine Ausnahme: Ältere Menschen zeigen in Befragungen überwiegend ein stabiles oder sogar wachsendes Wohlbefinden. Und das, obwohl es ihnen gesundheitlich zunehmend schlechter geht. Diese Beobachtung ist in der Psychologie als Wohlbefindens-Paradox bekannt. „Ältere Menschen betrachten das Leben anders als Jüngere. Sie konzentrieren sich auf das Positive im Leben“, erklärt Dr. Bozana Meinhardt-Injac, Dozentin am Psychologischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität. Die Wissenschaft unterscheidet verschiedene Arten des Alterns. Das primäre physiologische Altern wird durch Alterungsprozesse in den Zellen hervorgerufen, die bei allen Menschen gleich ablaufen.

Diese Prozesse lassen sich kaum beeinflussen. Es gibt aber auch externe Faktoren, die das Älterwerden bestimmen. Das sekundäre Altern hängt stark vom Lebensstil ab: Alkoholkonsum, Rauchen, Bewegung und Essgewohnheiten spielen eine wichtige Rolle. Aber auch eine positive oder negative psychische Grundeinstellung hat einen Einfluss auf den Alterungsprozess und darauf, wie man ihn erlebt. „In der Zeit nach dem Ende des beruflichen Lebens findet eine tiefgreifende Veränderung statt“, erläutert Meinhardt-Injac.

In den ersten Jahren des Ruhestandes sind viele Senioren gesellschaftlich sehr aktiv – sie engagieren sich in Vereinen, verreisen, leisten ehrenamtliche Arbeit. Mit zunehmendem Alter reduzieren sich diese Aktivitäten und der Freundeskreis wird kleiner. „Ältere Menschen wissen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt. Es ist deshalb wichtig zu akzeptieren, dass es im Leben Dinge gibt, die man hätte anders machen können, die sich jedoch nicht mehr ändern lassen.“ Dabei hilft es sehr, sich auf das zu konzentrieren, das einen glücklich macht.

Bewegtes Leben

Wilhelm hatte ein überwiegend glückliches Leben. Mit 20 heiratete er Anneliese. Kurze Zeit später kam ihr Sohn zur Welt. Sie hatten viele Freunde, eine große Familie und viel zu tun in ihrer Landwirtschaft. Wilhelm fotografierte gerne, sang im Verein, war bei der Feuerwehr und liebte die Berge. Langeweile kannte er nicht. Immer gab es an ihrem alten Backsteinhaus oder am Auto etwas zu reparieren und zu werkeln. So hat er sich auch mit dem Alter abgefunden und trauert seiner Jugend nicht hinterher.

„Ja, es waren schöne Jahre. Es war gut, aktiv zu sein, mit dem Kind auf den Schultern kilometerlang zu laufen. Aber das Leben geht weiter.“ Anneliese und er sind mittlerweile Urgroßeltern. „Man muss das Alter akzeptieren, dankbar sein, dass man fit ist, sich nicht hängen lassen, positiv bleiben. So viel wie möglich aktiv sein, am Leben teilhaben. Das hält jung.“ Wilhelm liest jeden Tag Zeitung, geht spazieren und treibt Sport, soweit es geht.

Deshalb war es ihm wichtig, als es so weit war, ins Altenheim seiner Heimatstadt umzuziehen anstatt weit weg zu gehen. Denn den Kontakt zu seinen Freunden wollte er nicht abbrechen lassen. Am Donnerstag ist ein Schulkamerad von ihm beerdigt worden. Er konnte nicht an der Trauerfeier teilnehmen. „Wieder einer weniger. Das macht mich traurig. Zuzusehen, wie schnell der Körper abbaut, das macht mich traurig. Aber man darf nicht zu viel darüber nachdenken. Sonst macht man sich nur fertig.“

Ein Leben für die Bühne?

Auch Ana spürt, dass sich ihr Körper verändert, älter wird. Sie ist vor Kurzem vierzig geworden. Fast dreißig Jahre ihres Lebens verbrachte sie auf der Bühne. Ihr Körper, ihre Muskeln und ihr Gefühl für Bewegungen waren ihre Werkzeuge. Ana war Balletttänzerin. Von morgens bis abends, sechs Tage die Woche, trainierte und probte sie; nahm an einer Vorstellung nach der anderen teil. Das Theater war ihre Welt, die Bühne ihr Zuhause. Madrid, London, Amsterdam, Koblenz und schließlich Mainz.

_MG_3291Sie studierte an der English National Ballet School, tanzte für die niederländische Königin und lernte Prinzessin Diana kennen. Kurz nach der zweiten Schwangerschaft entschied sich Ana, ihren Traumberuf aufzugeben. Sie hat es bis heute nie bereut: „Ich wollte für meine Kinder da sein, sie wachsen sehen und abends ins Bett bringen. Als aktive Tänzerin war das unmöglich, weil ich abends auf der Bühne sein musste.“

Ana hat mittlerweile drei Kinder, gibt Ballettunterricht, leitet mehrere Zumbakurse an einer Tanzschule und tanzt im Fastnachtsballett. So hat sie nie aufgehört, mit ihrem Körper zu arbeiten. „Ich fühle mich eigentlich genauso wie als ich jünger war. Aber wenn ich meinen Schülern eine Bewegung zeigen möchte, klappt es manchmal nicht mehr ganz so gut.“

Angst vor dem Älterwerden hat sie keine. Die Falten stören sie kaum. Das Schöne am Älterwerden sind die Erfahrungen, die man hat, das Wissen, das man über das Leben gesammelt hat und die Menschen, mit denen man befreundet ist, meint sie. Was sie aus ihrer Jugend vermisst? „Dinge zum ersten Mal auszuprobieren.“ Trotzdem ist sie immer noch neugierig geblieben und lernt mit ihren Kindern dazu. So hat sie vor Kurzem zusammen mit ihrer Tochter begonnen, Inliner zu fahren. Die Kinder halten jung, aber an ihnen sieht sie auch, wie die Zeit vergeht und dass sie selbst älter wird.

Kinder als Veränderung

Ihr erstes Kind veränderte auch komplett die Welt von Gabrielle und Sascha. Der Tag, an dem sie ihre Tochter Amélie aus dem Krankenhaus in ihre Neustadt-Wohnung brachten, markiert für sie eine Grenze. Ihnen wurde beinahe schlagartig bewusst, dass sie nun erwachsen geworden sind. Plötzlich war die Verantwortung für einen kleinen Menschen da. Und mit dem Feiern, Rausgehen und Sporttreiben war erst einmal Schluss. „Früher habe ich am Sonntag ausgeschlafen, danach lange gefrühstückt, die Zeitung gelesen und Sport gemacht. Das geht nicht mehr“, erzählt Gabrielle, die vor Kurzem 35 geworden ist.

_MG_3874Die Schwangerschaft und die Geburt waren eine körperliche Herausforderung für sie: „Da ist mir bewusst geworden, dass ich älter werde.“ Zwei Jahre nach Amélie kam ihr Sohn Maxime zur Welt. Jetzt gehen Sascha und Gabrielle abends fast nur noch getrennt raus. Sie wollen beide nicht auf ihr gewohntes Sozialleben verzichten. Zusammen geht es kaum, einer muss immer auf die Kinder aufpassen. Rückenschmerzen, Zukunftsängste, Kontostände: Diese Dinge verbindet Gabrielle nun mit dem Älterwerden. Was sie jung hält: Arbeit, Familie, Freunde, Partnerschaft.

Für Sascha ist der Schlüssel zum Jungbleiben das Umfeld, in dem er sich bewegt: Als Dozent an der Universität und Neustadt-Bewohner ist er viel von jungen Menschen umgeben. „Ich mag es, zu wissen, was junge Leute bewegt und wie sie ticken. Ich merke aber durch den Kontakt zu ihnen, dass ich älter geworden bin.“ Nächstes Jahr wird er mit seinen Schulkameraden zwanzig Jahre Abi feiern: „Und ich frage mich manchmal: Wo ist diese Zeit geblieben?“ Trotzdem weiß er: „Wir haben unsere 20er komplett ausgekostet, sind rumgereist, haben immer wieder Neues ausprobiert.“ So hat das Paar nur wenig das Gefühl, etwas ausgelassen zu haben. Deshalb sind sie jetzt offen für eine neue, stetigere Phase des Lebens.

Leben heißt Veränderung

Die Zeit zwischen 19 und 30, erklärt Dr. Meinhardt-Injac ist die Zeit der Experimente, des Ausprobierens, der wechselnden Partnerschaften und Berufe. In diesem Zeitraum verfolgt man vor allem seine eigenen Ziele und lernt für ein späteres Berufsleben. Zwischen dreißig und vierzig ist die Identität gefestigt. Die Selbstdefinition ist häufig durch den Beruf geprägt. In diesem Alter werden inzwischen die meisten Familien gegründet.

Es ist aber auch die Zeit, in der die ersten Anzeichen des körperlichen Verfalls einsetzen. Kinderkriegen ist dabei die größte Herausforderung für eine Beziehung: „Es gibt viele Studien zu diesem Thema und fast alle bestätigen, dass die ersten Jahre als Eltern der emotionale Tiefpunkt einer Partnerschaft sind.“ Aber es gilt auch: Je älter die Kinder werden, desto entspannter werden die Beziehungen und desto mehr Zeit haben die Eltern wieder füreinander.

Die dynamischste Zeit des Lebens ist das Teenageralter. In der Pubertät durchlaufen das Gehirn und der Körper gewaltige Veränderungen. In dieser Zeit findet die Identitätssuche statt. „Man empfindet sich in diesem Alter oft als einzigartig.“ Risikobereit- schaft und das Streben nach Unabhängigkeit spielen hier eine große Rolle. „Viele Teenager denken, dass ihnen nichts Schlimmes widerfahren kann. Sie unterschätzen manche Gefahren und gehen unnötige Risiken ein“, so die Psychologin.

Kindersicht

Ähnlich geht es Clara. Sie sehnt sich nach mehr Unabhängigkeit und Selbstständigkeit. Vor einigen Wochen ist sie 15 geworden. Sie will gerne älter sein, als sie ist: „Ich habe schon vor Monaten gesagt, dass ich 15 bin, weil es einfach besser klingt. Man wirkt sofort älter und erwachsener.“ Am liebsten wäre sie schon 18: „Das wäre richtig cool. Ich könnte dann viel mehr machen, ohne meine Eltern zu fragen: Alkohol trinken, rausgehen, abends später nach Hause kommen oder sogar ausziehen, wenn ich will.“

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Älter werden heißt für sie, eigene Entscheidungen treffen zu können, eben erwachsen sein. Deshalb findet sie es auch besser, mit älteren Freunden unterwegs zu sein. Seit ein paar Jahren achtet sie auch mehr darauf, wie sie aussieht, sich ernährt und was sie anzieht. Seit sie zwölf oder dreizehn ist, darf sie sich schminken. Ein Schönheitsideal hat sie hier nicht. Aber auf Instagram folgt sie Bloggerinnen, die zum Thema Beauty und Ernährung Beiträge posten.

Claras Vorstellungen für ihre Zukunft sind ziemlich klar: Nach dem Abi will sie ein Jahr lang verreisen und Erfahrungen sammeln. Danach möchte sie Medizin studieren und Chirurgin werden. Vor dem Älterwerden hat sie keine Angst. „Ich werde schon darauf achtgeben, wie ich aussehe.“

Angst hat Wilhelm schon lange nicht mehr. Aber in manchen Nächten, wenn er alleine im Bett liegt, fragt er sich, wie alles enden wird. „Der Gedanke kommt immer wieder: Was wird das hier werden? Was wird mit uns passieren?“ Er macht eine Pause. Sein Blick wandert zu seiner Frau und er legt ihre Hand zwischen seine Hände, streichelt sie liebevoll und küsst sie. Seine Stimme wird leiser: „Aber was kann man tun? Alles wird kommen, wie es soll.“