Clubsterben! Kulturtod! Betonleichen! Glaubt man aktuell den erschrockenen Ausrufen in den sozialen und sonstigen Medien, ist es um die Mainzer Kulturszene nicht gut bestellt. „Langsam aber stetig entschwinden in unserer schönen Stadt kulturelle Freiräume!“, prangerte jüngst auch eine Demonstration in der Innenstadt an. Eine düstere Prognose. Und tatsächlich hat der Sommer 2017 Mainz schwer zugesetzt: Erst fällt das Asta-Sommerfest aus, dann schließt das Gebaeude27, Panama- und Filmriss-Bar verabschieden sich, 50Grad und Haus Mainusch bangen um ihr Bestehen und nun hat auch noch die Planke Nord dichtgemacht. Stattdessen reihen sich am Rheinufer schicke neue Immobilien und immer mehr Flächen werden „nachverdichtet“. Unglücklicher Zufall oder Symptome einer kulturfeindlichen Stadtentwicklung?
Forderung nach Freiräumen
„Mehr Mitspracherecht bei Kulturfragen“, fordert Jakob Malkmus vom Kollektiv Zirkustechno. Gemeinsam mit Partyveranstaltern, Clubs und Vereinen aus Mainz und Wiesbaden hat er die „Solidaritätsdemo für mehr Kulturfreiräume“ ins Leben gerufen, die gegen Schließungen und Räumungen protestiert. „Wir wollen einen genreübergreifenden Dialog fördern“, erklärt er ihr Anliegen. Vereinfachte Lizenzen für Open Airs gehören zu ihren Forderungen, ebenso wie eine Abschaffung der Vergnügungssteuer. Die Stadt wird aufgefordert, mehr Freiräume zur Verfügung zu stellen, denn gegen große Investoren kämen Clubs wie das 50Grad nicht an.
Die Eltzer Hof Immobilie, in dessen Keller sich die Räume des Clubs seit 16 Jahren befinden, wurde kürzlich vom Land an einen Projektentwickler aus Montabaur verkauft. Wohnen und Büros sind geplant, mit einem Club eher unvereinbar. Auch das Haus Mainusch auf dem Campus soll mit Ablauf seines Mietvertrags im November geräumt werden. Die Planke Nord weicht den Bebauungsplänen der Stadt. Kein akzeptables Verhalten in einer Studentenstadt, finden die Veranstalter der Demo. „Es ist einfach schade. Leute, die was schaffen wollen, werden enttäuscht“, klagt ein Teilnehmer.
„Die hohe Kultur bekommt fette Zuschüsse und alternative Zentren müssen sich selbst tragen“
Um eine Politisierung kommt das Thema nicht umher – so marschierte zwischen farbenfrohen Zugwagen auch Linke-Direktkandidat Martin Malcherek mit bei der Tanzdemo. „Mieten runter statt Renditen rauf“, lautet seine Devise. Gegen eine Gentrifizierung der Neustadt, für mehr Autonomität und selbstbestimmte Zentren wie das Mainusch setzt sich seine Partei ein. Sigi Aubel, ebenfalls unter den Demonstranten, erkennt ein Muster in der Entwicklung: „Die hohe Kultur bekommt fette Zuschüsse und alternative Zentren müssen sich selbst tragen“, rügt er. Als Mitglied der Initiative „Kulturbäckerei“ setzt er sich seit einigen Jahren für eine Nutzung der Kommissbrotbäckerei als soziokulturelles Zentrum ein. Für das historische Gebäude hat die Stadt jetzt einen Nutzungsplan erstellt, der dem Vorhaben entgegenkommt. Ein Großteil soll von der städtischen Wohnbau vermietet werden. Übrige Räume könnten für eine alternative Nutzung freigegeben werden. Ein Lichtblick?
KUZ: Aus alt mach neu
Das Kulturdezernat hält am bestehenden Kulturentwicklungskonzept fest. „Es geht darum, dass die unterschiedlichsten Kulturszenen miteinander kommunizieren, sich organisieren, um gemeinsam mit der Stadt ihre Ziele zu verfolgen“, sagte Dezernentin Marianne Grosse in einem AZ-Interview Ende letzten Jahres. Die Zwischennutzung des Zollhafen-Areals begrüßte sie in diesem Rahmen, die Planke Nord sei ein tolles Projekt. Jedoch erinnert sie auch daran, dass es von Anfang an als Zwischenlösung entworfen war, sogar als Entgegenkommen der Stadt. Die Förderung alternativer Projekte sei weiterhin Teil des Plans.
Für Inspiration, wie solche Konzepte aussehen könnten, lohnt ein Blick auf die andere Rheinseite: „Der Wiesbadener Kulturpark ist einzigartig“, weiß Ulf Glasenhardt von Mainzplus Citymarketing. „Kulturschaffende aller Richtungen an einem Ort – so etwas hat Mainz momentan nicht.“ Glasenhardt ist neuer Leiter des KUZ und arbeitete zuvor 13 Jahre lang beim Wiesbadener Kulturpalast. Für das neue Mainzer Kulturzentrum, das Ende 2018 eröffnen soll, hat der 42-Jährige große Pläne. Im neu sanierten Backsteinbau können bald bis zu 1.000 Leute Platz finden. Im Obergeschoss wird es einen zweiten Raum geben, für Lesungen, Akustik-Konzerte und andere, eher ruhigere Veranstaltungen. „Das Programm bestimmt die Identität des Ladens“, sagt Glasenhardt, „gleichzeitig orientieren wir uns daran, was die Besucher sehen wollen.“
Mit der Partyreihe „KUZ unterwegs“ können sich Besucher derzeit ein Bild davon machen, was sie bald im neuen KUZ erwartet. Lesungen, Partys und Poetry Slams stehen auf dem Programm. Doch besonders als Konzert-Location erhofft sich Glasenhardt interessante Events: „Eine Konzerthalle in dieser Größe fehlt Mainz momentan.“ Dass die Stadt nichts für ihre kulturelle Szene tue, findet er nicht. Der Beschluss, das Gebäude zu sanieren, sei eine politische Entscheidung für die Kulturszene gewesen. „Damit zeigt Mainz doch gerade, dass ihnen Kultur nicht egal ist“.
Von der Suche nach freien Flächen kann auch das PENG ein Lied singen. Als Kulturnomade hüpft der Verein vom einen zum nächsten leerstehenden Gebäude, veranstaltet Konzerte, Partys, Ausstellungen. Vom ehemaligen Autohaus am Binger Schlag zogen sie in die Neue Golden-Ross-Kaserne in der Mombacher Straße und kurze Zeit später ins Alte Rohrlager der Stadtwerke an die Weisenauer Straße, Nähe Winterhafen. Dort bleiben sie, bis der Vertrag in einem Jahr ausläuft und es dann weitergeht – vielleicht in die Kommissbrotbäckerei, wer weiß?
Auch wenn das PENG es gewohnt ist, an keinem Ort wirklich zuhause zu sein, wird es immer schwerer, geeignete Räume zu finden. Ihr vorheriges Domizil, die Neue Golden- Ross-Kaserne wurde kürzlich für 3,4 Mio. Euro zwangsversteigert. Neben dem PENG residierten hier zuletzt ein Reha-Zentrum und eine Tanzschule, weite Teile des Gebäudes standen leer. Ursula Schramm und ihr Sohn David Wilk von der Wiesbadener UB-Projektgesellschaft haben den Zuschlag für das historische Gebäude erhalten. Ihre Pläne: Ab Oktober wollen sie die etwa 5.000 qm vermieten, am liebsten an Kreative aus der Region.
„Das Untergeschoss würde sich für Musiker eignen, zum Beispiel als Proberaum“, skizziert Ursula Schramm ihre Vision. „In den großen Räumen oben können sich kleine Firmen ansiedeln, oder wir vermieten sie als Co-Working-Space.“ Die Hochschule Mainz habe bereits Interesse bekundet. Künstler könnten die hellen Räume als Atelier nutzen – „wenn die Miete passt“, räumt Schramm ein. Im Erdgeschoss sei ein Café geplant, wo später auch Ausstellungen und Events stattfinden könnten. „Die Nachfrage der kreativen Szene ist hoch“, stellt David Wilk fest, „da müsste noch viel mehr getan werden.“ Ein weiterer Lichtblick in die gleiche Richtung ist da der ehemalige Nordhafen, ein Areal hinter dem Zollhafen, welches die Stadt im letzten Jahr von der Triwo AG abgekauft hat. Auch dort könnte bald vielleicht ein ähnliches Konzept entstehen wie in der Kaserne, plus Wohnen. Zurzeit passiert vieles in diese Richtung. Vielleicht wird sich bald noch mehr ergeben.
Verändertes Ausgehverhalten
Auch in anderen Studentenstädten wie Freiburg fordert das „Clubsterben“ seit Jahren zahlreiche Opfer. Dafür gibt es aber auch noch einen anderen Grund: Das Weggehverhalten unter jungen Menschen hat sich geändert. Besonders die Altersgruppe 16 bis 20 sei stark rückläufig, bestätigt Vincenzo Cruciano, Verkaufsleiter Gastronomie beim Getränkelieferanten Wigem: „Früher stand man um zehn Uhr abends überall Schlange“, erinnert er sich, „heute geht vor Mitternacht kaum jemand feiern.“ Die Stoßzeit sei meist zwischen ein und drei Uhr erreicht, danach dünne es schon wieder aus. „Von den zwei Stunden kann kein Betrieb überleben.“
„Früher stand man um zehn Uhr abends überall Schlange heute geht vor Mitternacht kaum jemand feiern. Von zwei Stunden kann kein Betrieb überleben“
Es besteht ein Trend zum selteneren Ausgehen. Dazu hat einerseits die Bologna-Reform ihren Teil beigetragen. „So etwas wie einen Studi-Tag unter der Woche gibt es nicht mehr“, sagt Cruciano, „die müssen ja alle schon um 8 Uhr in der Vorlesung sitzen.“ Ein anderer Teil hat sich auf Kneipen und Shisha-Bars verlagert. Und: Man trifft sich auch wieder mehr zuhause, auf Hauspartys oder bei einem Glas Wein. Denn: „Wenn ich mich mit Wodka-O in der Disco betrinke, dann sind schnell 50 Euro weg. Das können sich Studenten einfach nicht leisten“, antwortet ein junger Mann. Für die 6,50 Euro, die ein Longdrink kostet, bekomme man ja im Geschäft fast schon eine ganze Flasche davon.
Man muss heute auch nicht mehr in einen Club gehen, um etwas zu erleben. Das Angebot an Szene- und Erlebniskneipen ist gewachsen. Nicht selten legen dort sogar DJs auf. Trotzdem: Von einem Discosterben könne man nicht reden, sagt Stephan Büttner vom Bundesverband deutscher Diskotheken, der allerdings davon ausgeht, dass das Angebot mancherorts noch zu groß für die schrumpfende Zahl der 18- bis 25-Jährigen ist. Und dass es daher zu einer „gesunden Marktbereinigung“ kommen werde.
Während Spirituosen- und Bierverkäufe zudem rückläufig sind, sowie der Fitness-Boom Alkohol beinahe komplett negiert, steigt der Weinabsatz. Weinfeste oder das Marktfrühstück freuen sich über Zulauf. Außerdem verbuchen Restaurants derzeit wieder steigende Umsätze, auch durch jüngeres Publikum. Hybrid- Konzepte wie etwa das Gutleut an der Ludwigsstraße ziehen ebenfalls mit einem abwechslungsreichen Programm aus Ausstellungen, Restaurant-, Café- und Barbetrieb.
Ähnlich die Idee hinter der Kulturei, die vor einem Jahr unterhalb der Zitadelle eingezogen ist: Konzerte, Kunst, Theater, Performance und mehr an einem Ort vereint. „Viele Gastro- Konzepte sind sich nun mal sehr ähnlich“, gibt Cruciano von Wigem zu Bedenken, „da kommen neue Ideen gut an.“ Darüber freuen sich auch die Neustadt-Apotheke am Frauenlobplatz und diverse andere Läden, die eröffnet haben, seien es die Halle 45, der neue Kumi, oder die Pyramide. Neu zieht eben erst einmal auch, bis man sich zur Genüge unter Beweis gestellt hat. Letzten Endes hat auch die Digitalisierung einiges verändert. Geld wird heute anders ausgegeben, in Smartphones und Luxusprodukte gesteckt. Um neue Leute kennenzulernen, muss man nicht mehr lange suchen – per App ist das nächste Date schnell und praktisch nach Hause bestellt.
„Die Leute gehen immer noch aus. So ist es nicht“, relativiert Norbert Schön. Sein Club, das schon schön, hat sich seit seiner Eröffnung vor sieben Jahren zur festen Adresse der Mainzer Szene etabliert. Kurze Zeit später kam das Café blumen hinzu. Doch damit nicht genug: Mit Unterstützung der Stadtspitze wurde jetzt eine Einigung mit dem Eigentümer der Immobilie (MAG) getroffen und das „schon schön“ durfte weitere 200 qm im Erdgeschoss des Allianzhauses anmieten. 2015 hatte die MAG noch den Brandschutz des Gebäudes bemängelt, doch diese Zweifel wurden aus dem Weg geräumt. Im Winter zieht dort also eine neue Bar mit Café ein, die sich an den bestehenden Betrieb angliedern soll.
„Es wird weniger getrunken und wir machen auch früher das Licht wieder an.“
Trotzdem: „Der Mittwoch, unser ehemaliger Studententag, ist definitiv ruhiger geworden“, räumt Schön ein. „Generell scheinen die Leute schon weniger feierwütig. Es wird weniger getrunken und wir machen auch früher das Licht wieder an.“ Auf eine Theorie, woran das liegen könnte, will er sich aber nicht festlegen. Die Digitalisierung spiele sicherlich eine Rolle, ebenso wie das verschulte Bachelor / Master- System. „Den größten Teil unserer Gäste machen trotzdem nach wie vor Studenten aus“ Doch der Geschmack habe sich geändert. Der Elektro-Samstag wurde wegen ausbleibenden Publikums aus dem Programm genommen. Der Jazz-Montag mit anschließender Party laufe dafür besser. Auch die Konzerte seien gut besucht. Eine Verlagerung ja, aber kein existentieller Rückgang.
Dass Läden schließen und andere aufmachen, ist für Mainz nichts Neues. Letztendlich stehen und fallen Kulturbetriebe mit verfügbarem Raum, andererseits mit ihrem Publikum. Leerstände sinnvoll zu nutzen ist auch im Sinne der Stadt. Allerdings steht die Kultur dabei nicht immer an erster Stelle. Wohnraum muss dringender geschaffen werden, Kitas und Schulen – und der Stadt fehlen einfach auch oft die geeigneten Flächen. Mit Schwarzmalerei ist trotzdem niemandem geholfen, vielmehr muss sich auch jeder Einzelne mit Ideen stark machen und den Dialog mit der Stadt fördern. Bisher wurden gute Initiativen selten ausgebremst, sondern eher unterstützt. Das ist vielfach belegbar. Wichtiger denn je ist daher das kulturelle Engagement von Vereinen wie dem PENG, der Kulturbäckerei, Musikmaschine oder der Bar jeder Sicht und vielen weiteren, um zu zeigen, dass es eine starke junge Szene gibt, die aktiv ist und sich für ihre Interessen einsetzt. Alles andere wäre für eine Studentenstadt schließlich auch traurig. Stadt-Pressesprecher Ralf Peterhanwahr bringt es auf den Punkt: „Es bewegt sich kulturell viel. Dass Dinge kommen und gehen, ist dabei ganz normal. Mainz ist heute eine Goldgrube im Gegensatz zu vor 25 Jahren“. Aber die Stadt könne keine neuen Freiflächen aus dem Boden stampfen. „Sowas ergibt sich immer.“ Es muss nur jemand tun. Und manchmal braucht man dabei auch ein wenig Glück.
Text: Ida Schelenz Fotos: Elisa Biscotti