von Ines Schneider, Illustration: Lisa Lorenz
In Dirk Kurbjuweits Buch „Die Einsamkeit der Krokodile“ (1995) versucht ein junger Mann der Enge eines pfälzischen Dorfes zu entfliehen, indem er an der Gutenberg-Universität ein Studium der Philosophie beginnt. Als fantasiebegabter und eigenwilliger Mensch fühlt er sich dort jedoch unverstanden und Mainz ist nicht weit genug von seinem Elternhaus entfernt, um der familiären Kontrolle zu entgehen. Mainz wird hier als eine Verlängerung der Provinz dargestellt: ein Ort des Studiums, aber dennoch in alten Denkweisen verhaftet. Viele Studenten haben die Universitätsstadt zwar anders erlebt, doch es hat seinen Reiz, ihr in einem Roman auf die Art zu begegnen. Was für Geschichten könnten sich hier noch entfalten, in der Straßenbahn, einer Genossenschaftswohnung oder auf der grünen Brücke?
Kaum Erwähnung in der Literatur
Intensives Lesen hat ergeben: Es sind nicht viele Geschichten. In Mainz fühlt man sich dem geschriebenen Wort zwar verbunden: das Gutenberg-Museum, eine Messe für Kleinverlage, mehr als ein Literaturpreis und Betriebe wie der auf Typografie spezialisierte Schmidt Verlag sind Belege dafür. Aber Schauplatz einer fiktiven Handlung war Mainz in den letzten Jahrzehnten so gut wie nie. Die bekanntesten Werke sind vor langer Zeit erschienen oder graben tief in der Vergangenheit – Anna Seghers´ „Das siebte Kreuz“ ist unvergessen. In ihrem nach wie vor lesenswerten Roman aus dem Jahre 1942 tritt zu Tage, wie die Bevölkerung das Naziregime mittrug. Carl Zuckmayers „Fastnachtsbeichte“ wurde 1959 herausgegeben und ist im Jahre 1913 angesiedelt. Die Masken und Ausschweifungen der Mainzer Fastnacht bieten die Kulisse für ein Intrigenspiel. In beiden Fällen scheinen Ort wie Ereignis exemplarisch für eine bestimmte Situation zu stehen: Im Nationalsozialismus herrschten in fast jeder deutschen Stadt Verhältnisse wie in Mainz, die Tradition des Karnevals inspirierte schon so manchen Dichter zu einem Ränkespiel. Hans G. Thiemt und Hans D. Schreeb blicken noch weiter zurück. Im „Bader von Mainz“ (1988) lassen sie bunt und detailreich das Leben um 1350 auferstehen, als der Dom noch jung war und die wichtigsten Entscheidungen im heißen Zuber gefällt wurden. Seitdem ist viel Wasser den Rhein hinab geflossen. Junge, experimentierfreudige Autoren wie Marjana Gaponenko („Wer ist Martha?“), Matthias Boosch („Großtyphien“) oder Felicitas Pommerening leben offenbar gern in Mainz, schicken ihre Figuren aber durch andere Ortschaften.
Krimis im Kurs
Es wäre jedoch falsch zu behaupten, dass die Mainzer nie die Lust am Erzählen und Fabulieren packte! Nichts scheint eine Gegend so interessant zu machen wie ungelöste Verbrechen. Und so wächst und gedeiht auch hier das Genre des Regionalkrimis. Es besteht sogar ein Autorenkreis namens „Mörderisches Rheinhessen“. In der Tat bietet die klassische Kriminalliteratur eine klare Struktur, mit deren Hilfe Informationen unterhaltsam vermittelt werden können. Jürgen Heimbach, ein Mitglied des Kreises, verarbeitet in „Unter Trümmern“ oder „Alte Feinde“ historische Fakten. In „Johannes ´ Nacht“ dagegen beschreibt er die aktuellen sozialen Bedingungen, denen er begegnet. Heimbach engagiert sich seit vielen Jahren für das kulturelle Leben in Mainz, recher- chiert, organisiert und inszeniert. Die Ermittlungen, die in seinen Krimis angestellt werden, berühren die verschiedensten Um- und Missstände und lenken den Blick des Lesers darauf. Auch in Dieter Schmidts „Karl Napp“-Serie geht es um krumme Geschäfte, der Autor zählt seine Romane jedoch zur Gattung Kokolores. Schmidts „Privaddedegtif“ Karl Napp ist von edler Einfalt. Nichts Menschliches ist ihm fremd und jede körperliche und geistige Regung wird gnadenlos ausbuchstabiert. Napp stolpert von einer hochnotpeinlichen Situation in die nächste, seine Fälle löst er eher versehentlich. Dabei bewegt er sich durch die Mainzer Stadtlandschaft, die Institutionen und die sozialen Biotope und da er frei von Scham- und Taktgefühl ist, mischt er diese gehörig auf. Dieter Schmidt ist kein gebürtiger Mainzer. Er lebt aber seit vielen Jahren hier und arbeitet als Briefträger: viel Gelegenheit also zu Feldstudien. Er hat die Mainzer als angenehm unkompliziertes Völkchen kennen gelernt, das selbst unter widrigen Umständen nicht den Humor verliert und manchmal ziemlich viel Mist babbelt. In seinen Erzählungen herrscht fröhliche Anarchie und deshalb haben viele ihn wohl auch ins Herz geschlossen, ihn un´ de Kall. Werden die Mainzer also erst interessant, wenn sie tot oder närrisch sind? Nein! Erstaunlich, dass es ihnen bestimmt nicht an Einfallsreichtum, höchstens an Selbstbewusstsein mangelt. Denn eine gute Geschichte kann überall spielen, auch hier.