Pfiffe, ungewollte Kommentare oder anzügliche „Komplimente“ – (sexuelle) Belästigung hat viele Gesichter. „Catcalls of Mainz“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Erlebnisse mit Kreide auf die Straße zu bringen. Für manche Außenstehende ist nicht jeder Vorfall gleich ein Catcall, auch, wenn die Betroffenen ihn so wahrnehmen. Um diese unterschiedlichen Perspektiven geht es in diesem Streitgespräch.
Melina und Celine sind Aktivistinnen bei „Catcalls of Mainz“. Ihre Position: „Welche Situation Belästigung ist, entscheidet die betroffene Person, sonst niemand.“ Dominik, der anonym bleiben möchte, hält dagegen: „Zu niederschwellig angesetzte Catcalls polarisieren die Zielgruppe mehr, als sie die Bewegung voranbringen.“
Dominik: Für mich ist sexuelle Belästigung nicht das, was ihr als sexuelle Belästigung darstellt. Wenige Leute sehen sowas wie „schöne Haare“ als sexuelle Belästigung. Dementsprechend nehmen viele euer ganzes Projekt weniger ernst.
Melina: Es geht uns darum, auch nicht offensichtliche Belästigungen sichtbar zu machen. „Du geile Sau, hast nen geilen Arsch“, da begreift der Großteil der Gesellschaft, dass das nicht ok ist. Dass „Hey, du hast schöne Beine“ genauso wenig in Ordnung ist, das ist der Kern unserer Aufklärung. Celine: Grundsätzlich geht es um das Kommentieren von Äußerlichkeiten im Vorbeigehen. Das macht Catcalling aus. Es geht auch nicht immer um sexuelle Belästigung, sondern um Belästigung im Allgemeinen.
Melina und Celine, warum haben für euch alle Erlebnisse den gleichen Stellenwert?
Celine: Die betroffenen Personen fühlen sich immer belästigt. Die Leute schreiben uns, weil sie in der Situation Angst hatten oder weil sie sich sexuell oder grundsätzlich belästigt gefühlt haben.
Melina: Und weil sie sich nicht ernst genommen fühlen. Oder weil sie sich nie getraut haben, darüber zu sprechen. Oft aus Angst davor, dass ihnen die Erfahrung abgesprochen wird.
Dominik: Also ist immer nur die Empfängerperspektive relevant? Unabhängig von dem, was der andere eigentlich sagen wollte?
Celine: Genau, weil die Person, die sich belästigt fühlt, darf sich so fühlen.
Dominik: Für Leute, die sich mit den Themen Feminismus und Belästigung wenig auseinandersetzen, für die ist diese Haarspalterei eher abschreckend. Für die betroffene Person war es eine Belästigung, aber in der breiten Masse wird es nicht so wahrgenommen.
Melina: Es ist wichtig zu polarisieren. Deshalb machen wir keinen Unterschied zwischen „du geile Sau“ und „schöne Haare“. Menschen sollen das Gespräch suchen und anfangen, zu verstehen, um was es eigentlich geht.
Was entgegnet ihr Männern, die sagen, sie wissen nicht mehr, wie sie Frauen ansprechen sollen?
Celine: Es kommt immer auf den Kontext an. „Schöne Haare“ kann in einem angemessenen Rahmen eine nette Sache sein. Es gibt da kein Patentrezept.
Dominik: Eben hieß es, dass der Inhalt der Message des Senders völlig irrelevant ist. Da es nur auf die Sicht des Empfängers ankommt. Das widerspricht sich. Wenn es nur auf den Empfänger ankommt und der Inhalt egal ist, ist es eigentlich nicht mehr möglich, Leute anzusprechen, die man nicht kennt.
Melina: Doch, du kannst ja einfach mal eine normale Konversation mit der Person starten, bevor du ihr Äußeres bewertest.
Dominik: Aber was ist dann normal?
Melina: Dass man sich erstmal vorstellt und abwartet, wie die Person reagiert, bevor man ungefragt irgendwelche Sachen zu ihrem Körper oder ihrem Aussehen sagt. Was mein großes Problem mit diesen äußeren Bewertungen oder mit diesen vermeintlichen Komplimenten ist: Ich kann mich dem nicht entziehen.
Dominik, würdest du sagen, es gibt Fälle, in denen Aussagen gegenüber Betroffenen relativiert werden könnten?
Dominik: Ja, beispielsweise gibt es da einen Vorfall auf der Theodor- Heuss-Brücke, ich lese ihn einfach mal kurz vor:
Hey ihr, ich verfolge euch zwar erst seit kurzem, aber ich wollte mit euch teilen, was gestern passiert ist, auch wenn es vielleicht für einige nicht so schlimm erscheint, als etliche andere Anmachen, welche ihr hier gepostet habt. Ich bin erst siebzehn und wurde gestern das erste Mal bezüglich meines Aussehens „bewertet“. Ich bin mit einer Freundin über die Theodor-Heuss-Brücke Richtung Mainz-Kastel gelaufen. In einem Auto saßen zwei Männer, ich würde sagen zwischen 20-30 Jahren und haben mich angehupt. Ich hatte ein Kleid an und habe mich davor nicht unwohl darin gefühlt. Aber nach diesem Vorfall habe ich mich nicht mehr so wirklich wohl gefühlt.
Es war das Ekelhafteste, was mir jeh vorgefallen ist und ich wünsche es wirklich niemandem.
Dominik: Wir gehen jetzt mal von dem Standpunkt aus, dass dieses Hupen tatsächlich der Person gilt. Selbst, wenn wir das als gegeben hinnehmen, finde ich es ziemlich hetzerisch zu sagen, das ist „das Ekelhafteste, was mir je passiert ist“.
Melina: Das ist super übergriffig, was du gerade machst. Du kannst nicht bewerten, was eine Person als schlimm empfindet. Das Wichtige ist, darüber zu reden und der Person den Raum für ihre Gefühle zu geben.
Celine: Sie hat vielleicht tatsächlich noch nichts anderes in dem Bereich erleben müssen. Dann ist das das Schlimmste, was sie bisher erlebt hat.
Dominik, findest du nicht, dass jeder Mensch das Recht hat, selbst zu entscheiden, durch was er sich belästigt fühlt?
Dominik: Bis zu einem gewissen Grad ja. Wir sind immer noch eine Gesellschaft. Wir sind alles Menschen, die miteinander leben müssen. Wenn wir sowas wie Anhupen jedoch in diesem Ausmaß problematisieren, wird es immer schwerer, in Interaktion mit anderen Menschen zu treten.
Melina: Wenn Anhupen das Einzige ist, was dir einfällt, um mit einer Person zu interagieren, dann würde ich mein komplettes Konversationsverhalten hinterfragen.
Dominik: Ich habe noch nie eine Frau angehupt und hab’s auch nicht vor.
Melina: Aber du relativierst dieses Verhalten.
Celine: Die Frage ist, mit welcher Intention hupt man jemanden an. Du wirst mich danach nicht ansprechen, du wirst mich nicht fragen, ob ich Bock auf nen Kaffee habe. Du fährst einfach weiter und lässt mich da stehen.
Melina: Und du kannst nicht mal sagen, dass du es scheiße fandest. Du bist dem komplett ausgeliefert und fühlst dich danach einfach beschissen.
Dominik: Wenn man das runterbricht, ist das in irgendeiner Form eine Belästigung. Man sorgt dafür, dass sich jemand unwohl fühlt. Das Problem ist, dass sich viele gar nicht so intensiv mit dem Thema auseinandersetzen.
Melina: Deswegen gibt’s uns. Das ist unser Ziel.
Glaubt ihr, Melina und Celine, manche Männer fühlen sich durch Ankreidungen bedroht?
Celine: Ich glaube es nicht nur, sondern ich weiß es. Wenn wir Kreiden gehen, sind es leider hauptsächlich Männer, die etwas dagegen sagen. Die fühlen sich auf jeden Fall angegriffen. Aber meistens ist dieses angegriffen fühlen auch ein ertappt sein.
Melina: Man soll dadurch hinterfragen, was man kommuniziert und wie das bei der anderen Person ankommt.
ominik: Das weiß man aber nicht. Wenn es nur auf das Empfangene ankommt und nicht auf den Inhalt. Es gibt viele Menschen, die nicht so kommunikativ sind und das nicht gut können.
Melina: Dann muss man das lernen. Wenn man sowas öfter mitbekommt, dann beginnt man als reflektierter Mensch hoffentlich, sein Verhalten zu hinterfragen. Die Leute, die belästigen, haben die Macht, das zu ändern.
Celine: Es gibt das große Argument „Ich spreche doch Leute nur an, die ich attraktiv finde.“ Aber das impliziert das Ansprechen sowieso schon. Das extra noch zu kommentieren, das ist die Belästigungserfahrung.
Was ist mit Männern, die Frauen respektvoll angesprochen haben, dennoch eher schroff zurückgewiesen werden und sich dadurch verletzt fühlen können?
Melina: Ich glaube, so etwas passiert in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem man ständig belästigt wird. Dann kommt mal jemand Nettes und spricht mich an und in dem Moment denke ich mir „ne schon wieder so jemand“. Ich sage dann trotzdem nicht gleich „Äh du schlimmer Mensch, geh weg“.
Celine: Man sollte jemanden in einer netten Art und Weise abweisen.
Dominik: Etwas anderes: Ich bin euch ab einem Post entfolgt, der ist aus meiner Perspektive nicht vertretbar:
Hey 🙂 wegen eures letzten Posts musste ich auch an einen Vorfall denken, der ebenfalls an der Haltestelle als mitten auf der Straße ein Cabrio anhielt. Ich hörte, dass jemand was sagte aber ignorierte es zunächst. Dann rief er lauter „hey, wo soll’s denn hingehen“. Hab dann intuitiv „nach Hause“ geantwortet, darüber habe ich mich im Nachhinein geärgert..& und von ihm kam dann nur „ach steig doch ein, ich kann dich mitnehmen, zum Beispiel zum Bahnhof“. Da ich dort ganz alleine war, war es super unangenehm und beängstigend und ich habe mich nur gefragt was er erwartet, dass ich bei einem Fremden einsteige?
Glücklicherweise ist er nach meiner Abweisung gefahren.
Dominik: Vielleicht wollte der Mann nur Hilfe anbieten. Dafür steht Feminismus doch: Dass man einen Menschen nur aufgrund des Geschlechts nicht in eine Schublade steckt. Das ist doch der Inbe- griff von jemanden in eine Schublade stecken. Damit impliziert ihr, dass jeder Mann ein Sexualstraftäter ist.
Celine: Es gibt diese Debatte „not all men“. Um die Thematik zu erklären, gibt es ein schönes Beispiel: Du schwimmst im Meer, plötzlich kommt ein Hai auf dich zu. Du denkst nicht „den streichel ich“. Nein, du schwimmst um dein Leben, um nicht von diesem Hai gefressen zu werden. Schaut man sich Statistiken an, wie viele Menschen jemals von einem Hai angegriffen worden sind, ist das eine winzig kleine Prozentzahl. Trotzdem wird jeder um sein Leben schwimmen, wenn ein Hai in seiner Nähe ist. Das Gleiche ist das Problem mit vielen männlich gelesenen Personen. Dir ist ein oder zwei Mal etwas Schlimmes passiert und daraufhin reagierst du so, weil du scheiße Angst hast.
Welchen Einfluss hat Catcalls auf patriarchale Strukturen?
Melina: Dadurch, dass wir Catcalls öffentlich darstellen, rütteln wir an patriarchalen Machtstrukturen. Wir machen auf ein Symptom des Patriarchats aufmerksam, nämlich Belästigung im öffentlichen Raum. Und wir betonen, dass es vor allem um die Perspektive der Betroffenen geht und nicht darum, dass Männer sich nicht mehr trauen, jemanden anzusprechen.
Celine: Es ist schon vorgekommen, dass Leute uns angeschrieben haben und meinten: „Mir war nicht bewusst, dass das ein Catcall ist. Jetzt weiß ich es und werde das in Zukunft nicht mehr tun.“
Dominik, was bewegt die Arbeit von Catcalls deiner Ansicht nach und was nicht?
Dominik: Ich glaube, dass diese Arbeit einen großen Einfluss hat. Wenn man über die Kreide läuft, bleibt man stehen und wenn man ein bisschen interessiert ist, guckt man sich das an. Aber beim Großteil der Gesellschaft hört es an der einen oder anderen Stelle auf, das alles gedanklich nachvollziehen zu können, dass es sexuelle Belästigung ist. Ich glaube, dass strittige Beiträge einen Schatten auf die Arbeit von Catcalls werfen.
Das Gespräch moderierte Alex Schweitzer