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The Sound of Silence – Gehörlose in Mainz

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von Mara Braun, Fotos: Katharina Dubno

„Wir sind nicht behindert, wir werden behindert“ – der Satz schwebt wie ein Ausrufezeichen über dem kleinen Ecktisch im Nelly’s in der Mainzer Neustadt. Liona Paulus hat ihn gesagt, tatsächlich gesagt – lautmodelliert – und gleichzeitig mit ihren Händen für Barbara Rott und Roland Metz gesprochen, die zur Bestätigung heftig nicken.
Paulus ist schwer hörgeschädigt, „aber identitätsmäßig absolut taub“, Rott von Geburt an taub, Metz im Alter von zwei Jahren als Folge einer Meningitis ertaubt. „In meiner Kindheit war Gebärdensprache verpönt“, sagt Paulus, deshalb lernte sie sehr gut Lippenlesen. Wer ihr beim Sprechen zuhört, braucht eine Weile um zu merken: Ihre Betonungen sind nicht immer auf den Punkt – hier redet eine, die den Klang der eigenen Stimme außerhalb ihres Körpers nicht kennt. Die von der UN 2006 verabschiedete und im Mai 2008 in Kraft getretene Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen stellt klar, deren gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft ist ein Menschenrecht. In Deutschland wurde das Übereinkommen 2009 ratifiziert, in Rheinland-Pfalz 2010 ein Aktionsplan zur Umsetzung verabschiedet. In Mainz hat der Stadtrat ebenfalls beschlossen, einen solchen Plan zu erstellen, unter Einbindung von Behindertenrat und der Behindertenbeauftragten Marita Boos-Waidosch. „Wir verstehen den Aktionsplan als Lernprozess, während dessen Entstehung bereits viel passiert ist in Sachen Inklusion und Teilhabe“, sagt Sozialplaner Bernd Quick.

Taubheit als Identitätsmerkmal
Für viele Gehörlose ist ihre leicht nuschelnde und bruchstückhafte Modulation beim Reden ein Grund, Lautsprache für sich komplett auszuschließen. Barbara Rott erzählt, dass sie als Jugendliche manchmal gesprochen und für lange Zeit Lippen gelesen hat: „Aber die Leute halten einen für dumm, wenn sie das hören“ – eine Stigmatisierung, gegen die viele Taube sich immer noch wehren müssen. „Die Verwunderung ist oft groß, wenn wir erzählen, dass wir natürlich einen Führerschein haben und einen Job, dass wir studieren, uns gerne Filme anschauen und sogar Musik hören“ – Rott am liebsten beim Autofahren, wenn sie die Bässe besonders spürt. Das Sprechen indes hat sie bewusst aufgegeben, auch um sich von einer Art „Normalisierungsdruck“ zu befreien. Überhaupt, „wer Lippen liest und spricht, nimmt dem Gegenüber den Druck, sich um alternative Kommunikation zu bemühen.“ Dieser Druck sei aber unbedingt notwendig, denn: „Inklusion kann nicht heißen, wir passen uns den Hörenden an und machen es ihnen leicht. Es muss ein Geben und Nehmen sein“, sagt Roland Metz, „taub zu sein, das ist Teil unserer Identität – das wollen wir nicht loswerden.“ Passend dazu trägt der „waschechte Mainzer“ ein T-Shirt mit der Aufschrift Original Deaf. „Deaf, das englische Wort für taub, drückt in Großschreibung genau das aus – die Identität, die wir damit verbinden.“ Für die Stadt sei es ein Bewusstwerdungsprozess, dass Barrierefreiheit und Inklusion über den Bereich Mobilität hinausgehen, erklärt Bernd Quick, die Behindertenbeauftragte Marita Boos-Waidosch stimmt ihm zu. Auch für sie sei es wichtig zu transportieren, „uns geht es um sämtliche Gruppen. Besondere Erfolge kann Mainz im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs verbuchen“, auch die Zusammenarbeit mit dem Tiefbauamt sei intensiv. Generell stehe man bei der Inklusion vor einem Problem, das sich durch alle Lebensbereiche zieht: „Barrierefrei und bezahlbar, das ist einfach eine schwierige Kombination.“ In Mainz stoße das Thema aber auf ein „großes Potenzial von Bereitschaft“, für Boos-Waidosch ist das „absolut keine Selbstverständlichkeit“.

„Es gibt viel zu erzählen“
Etwa 2.000 taube oder stark hörgeschädigte Menschen leben in Rheinland-Pfalz und es ist, so die Selbstwahrnehmung, eine Gruppe, die auch beim Thema Inklusion oft hinten runter fällt. Wer an Behinderung denkt und daran, hier Teilhabe zu ermöglichen, hat wohl Rampen für Rollstuhlfahrer oder Leitsysteme für Sehbehinderte auf der Liste, bevor er daran denkt, wie jemand mit Hörschädigung sich beim Arzt verständlich macht. Dazu kommt: „Wir können unsere Stimme nicht erheben.“ Und dann wäre da noch die Frage nach einer korrekten Bezeichnung: „Taubstumm geht gar nicht“, betont Roland Metz leidenschaftlich und verweist darauf, dass der Hinweis auf die Veraltung des Begriffs sogar im Duden steht. „Wir sind nicht stumm, in keinerlei Hinsicht.“ Entsprechend ist es okay, die Drei zu bitten, etwas miteinander zu „besprechen“, und Roland schreibt zu Beginn des Interviews, bei dem immer wieder Stifte übers Papier fliegen: „Es gibt viel zu erzählen.“ Geht es in Sachen Selbstbeschreibung ums Verb, identifiziere man sich am besten mit „taub“, findet die Gruppe, aber „die ‚Tauben’ klingt dann immer nach Vögeln“ – also taub, aber: Gehörlose. Die Räume des Fachdienstes für Hörgeschädigte in Weisenau liegen in einem Hinterhof. Wer die Treppen er- klommen hat, betritt den freundlich eingerichteten Besprechungsraum. Gerade findet eine Beratung statt. Der Fachdienst gehört zum Landesverband der Gehörlosen, einem Selbsthilfeverband. „Das heißt, alle Vorstandsmitglieder sind selbst hörgeschädigt oder taub“, sagt Fachdienstleiter Gerhard Kwoka. Das Angebot des Fachdienstes ist breit: Schwerpunkte sind „die Vermittlung am ‚ersten Arbeitsmarkt’, Unterstützung bei Problemen im Job und ‚Hilfen zur Erziehung’“ – das meint vor allem die gebärdensprachliche Frühförderung für Kinder, aber auch Förderung von Eltern, deren Kind taub ist oder von Kindern, die mit tauben Eltern leben. Der Fachdienst berät auch, unter anderem bei der Frage, wer die Kosten für Dolmetscher übernimmt. Bei der Einladung einer Behörde wie beispielsweise der Polizei muss diese die Kosten tragen, beim Arztbesuch die Krankenkasse, im „privaten Bereich“ aber trägt sie der Gehörlose. Elternabende, Anwalt, Bankgespräche, Kaufberatungen – da kann einiges zusammenkommen. „Wir behelfen uns oft einfach anders“, sagt Roland Metz. Der Bauzeichner arbeitet nebenher als Dozent für die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Gemeinsam mit Paulus und Rott hat er SignTimes e.V. gegründet, einen Verein, der sich die Vermittlung der DGS an Hörende zum Ziel gemacht hat. „Unser Wunsch ist, dass mehr Hörende die Gebärdensprache lernen, das gehört für uns zu echter Inklusion.“ Wie stark diese Muttersprache ihren Alltag prägt, zeigt sich auch an vermeintlichen Kleinigkeiten: „Gehörlosen wird dauernd das Essen kalt, weil sie Messer und Gabel ablegen, um sich zu unterhalten“, erzählt Liona Paulus und lacht. Ihre Kommunikationswege indes sind dieselben wie bei Hörenden: „Wir lieben das Internet“, sagt Roland Metz und Paulus ergänzt: „Wir haben alle Smartphones“ – da gilt die Leidenschaft speziell WhatsApp. Weil man damit so einfach Nachrichten tippen kann? „Viel besser!“ Paulus’ Augen glänzen. „Wir nehmen die Gebärden per Video auf und schicken sie einander zu.“ Alle drei lachen, Hände fliegen durch die Luft, Barbara Rott nickt, Liona Paulus klopft auf den Tisch, Roland Metz zwinkert. „Wir sind weder betroffen, noch behindert“, sagt Rott mit großem Nachdruck und Paulus fügt hinzu: „Sondern Mitglieder der Gehörlosenkultur.“ „Und darauf“, vollendet Metz, „sind wir sehr stolz.“