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So wohnt Mainz – Vertikal organisiertes Leben

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von Monica Bege, Fotos: Jana Kay

Die Nachtlichter der Stadt, die gigantische Fernsicht am Tage und den Rhein zum Greifen nah – den grandiosen Ausblick genießt Margot Jäger noch wie am ersten Tag. „Wenn sich ein Wetter zusammenbraut, beobachte ich das gerne vom Balkon aus.“ Sie wohnt in der 14. Etage des ersten zu Wohnzwecken errichteten Hochhauses in Mainz. Es steht am Rande des Volksparks.
Eigentlich sind es zwei Gebäude, schräg hintereinander versetzt. Über ein breites Fluchttreppenhaus verschmelzen sie zu einer Einheit. Aus manchen Perspektiven überlappt ein Gebäudeteil komplett den anderen. Der Architekt hat das Ensemble auf Stelzen gestellt und viel Glas im Eingangsbereich eingeplant. Dieser Kniff wirkt ebenerdig der massiven Mächtigkeit der darüber thronenden achtzehn Stockwerke entgegen.

Das Kapital der Hochhausfamilie
Der Allianz-Versicherung dienten die Hochhäuser als Kapitalanlage. Die Fertigstellung Anfang 1963 fiel in die Zeit, zu der man sich endlich auf den Standort des ZDF geeinigt hatte. In Folge orientierten sich nun dessen Mitarbeiter ebenfalls in Richtung Mainz. Dass sich in exklusiver Parklage 105 Einheiten „en bloc“ anboten, kam ihnen gelegen. Margot Jäger arbeitete zusammen mit ihrem Ehemann in der ZDF-Technik. Sie zogen 1970 ein. „Die Wohnungen waren teuer. Doch der Sender unterstützte mit einem Mietzuschuss“, erinnert sich die 79-Jährige. „Vor dem Einzug mussten sich sogar drei Garanten dafür verbürgen, dass man vom Typ her in das Haus passte.“ Die ungewöhnliche Maßnahme minimalisierte Konflikte zwischen den Bewohnern und schaffte eine solide Basis des Miteinanders. Auch wenn das einstige Anlageobjekt längst in Eigentumswohnungen umgewandelt wurde, die Stimmung der ersten Tage blieb. Unaufdringliche Plaudereien bei zufälligen Begegnungen prägen den Alltag. Eigentlich ist es wie in einer großen Familie, einer Hochhausfamilie eben. Die, die lieber für sich bleiben, gehören trotzdem dazu. Wer nicht rumstänkert, trägt zur Harmonie bei und wer bei Mutter Hochhaus einfach nicht ausziehen möchte, versucht dem Verlangen nach mehr oder weniger Wohnfläche mit einem Umzug per Aufzug, also hausintern, nachzukommen. Die Anlage ist gepflegt, der Eingangsbereich hell und der Aufzug heißt mit geöffneter Tür seine Fahrgäste willkommen. Ob Mensch oder Bauwerk, es braucht Pflege. So, wie die Pflanzenrabatte vor dem Eingangsbereich. „Um die kümmert sich ein Pfarrer im Ruhestand. Wegen seines grünen Daumens wird er oft für den Hausmeister gehalten“, weiß Erwin Stufler zu berichten. Er ist im Hausbeirat tätig und hat die Wichtigkeit gemeinsamer Aktionen erkannt: Ob Grillfest, nostalgische Fotoschau oder die diesjährige 50-Jahr-Feier – die zwanglosen Hausaktivitäten finden in unregelmäßigen Abständen statt und verbinden das vertikal organisierte Leben hinter der gelben Fassade.

Wohlfühl-Wohnen
Stephanie Müller lebte 21 Jahre in Mainz, danach 21 Jahre in der Ferne. Dann sollte die Zeit für die alte Heimat wieder anbrechen. Sie begann mit der ermüdenden Wohnungssuche. Einen Besichtigungstermin wollte die gebürtige Mainzerin schon absagen. Alles deutete auf reine Zeitverschwendung hin: fünfzig Quadratmeter, fast ein Drittel kleiner als ihre damalige Altbauwohnung und noch dazu im Hochhaus. Der Vermieter beharrte jedoch auf dem Treffen. Als Stephanie im 6. Stock ankam, hatte sie realisiert, dass negative Hochhaus-Assoziationen in diesem Gebäude nicht bedient wurden. Ihre Entscheidung war schnell gefällt. Kommunikativ lud sie zum Einzug im Mai neben den direkten Nachbarn gleich noch die der angrenzenden Stockwerke ein. Er wurde sehr gesellig und eng. „Generell kämen mir zehn Quadratmeter mehr schon entgegen“, sagt Stephanie, die mit ausgehängten Zimmertüren ein größeres Raumgefühl entstehen lässt. Das gemütliche Wohnzimmer liegt zentral und führt auf einen schmalen Balkon mit Morgensonne. Hier holt sie sich Entspannung für den Rest des Tages und hier wachsen im Sommer auch die Kräuter, die jetzt ihre eigenen Salzmischungen aromatisieren. Feine Liköre reifen in großen Gläsern auf dem Küchenschrank, alle Bilder in der Wohnung hat sie selbst gemalt. „Praktische Arbeit ist ein schöner Ausgleich zur digitalen Welt. Man sieht endlich mal, wie etwas entsteht“, erklärt sie ihre Passion. Für Stephanie ist das Leben derzeit perfekt. „…außer die Sache mit den Quadratmetern“.