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sensor-Kolumne im April: Dr. Treznok kennt sonderbare Menschen

Ohne Menschen wären Städte sinn- und inhaltslos. Und meist sind es nicht etwa die Schönen und Reichen, die das Stadtbild prägen, weil die sowieso höchstens hinter getönten Scheiben einer Luxuslimousine auftauchen. Viel auffälliger sind die skurrilen Randgestalten, ohne die jede Stadt profillos wäre. Auch in Mainz gibt es solche Menschen, die irgendwie aus dem Rahmen fallen, und oft merkt man das erst Jahre später, wenn sie nicht mehr da sind.

Wer erinnert sich noch an den Mann, der sich bei schönem Wetter auf den Domplatz stellte und als Frau verkleidet ganz schlechte Lieder noch schlechter auf einem Keyboard spielte? Ich habe ihn mal zufällig in einer Gaststätte kennen gelernt und war ganz erstaunt zu erfahren, dass er dieser als Frau verkleidete schlechte Musiker war. Irgendwann tauchte er nicht mehr auf, und erst Jahre später bemerkte ich sein Verschwinden.

Auch andere Gestalten sind gestorben. So fiel jahrelang eine offensichtlich obdachlose Frau in der Innenstadt auf, weil sie dem Klischee einer Obdachlosen doch sehr entsprach. Immer schob sie einen Einkaufswagen mit ihren Habseligkeiten herum, meist stand sie an irgendeiner Ecke, auf den Wagen gestützt und rauchte. Ich habe nie mit ihr geredet und erst nach ihrem Tod im vergangenen Jahr erfahren, dass sie einen Namen hatte und Frau Schneider hieß. Ohne sie sind die Ecken in Mainz nun ein bisschen langweiliger.

Ebenfalls verstorben ist Jan. Er hatte immer ein Fahrrad mit einem Anhänger bei sich, in dem er Pfandflaschen und andere nützliche Dinge sammelte. Wo er sein Zelt aufschlug, verriet er niemandem. Er hatte ein ganz rotes Gesicht, und wer ihn nicht kannte dachte bestimmt das käme vom Alkohol. Dabei trank Jan gar nicht viel Alkohol, er war wegen anderer Probleme auf der Straße gelandet. Er war ein aufbrausender Typ, der Ungerechtigkeiten nicht ertrug, so dass er immer leicht angespannt war, mit vor Erregung rotem Gesicht. Obwohl er so reizbar war hatte er viele Freunde und Bekannte und fand immer eine Gelegenheitsarbeit, mit der er sich über Wasser halten konnte. Er war zu stolz, um Geld vom Staat anzunehmen.

Nicht verstorben ist der im Mainzer Volksmund als „Jesus-Neger“ bekannt gewordene dunkelhäutige Mann, der immer mal wieder vor dem Bahnhof auftauchte, um dort die frohe Botschaft von Jesus zu verkünden oder zumindest das, was er dafür hielt. Selbst Atheisten bewunderten seinen Mut und seine Ausdauer, sich mitten auf dem Bahnhofsvorplatz zu stellen und dort zu predigen. Wo doch alle nur schnell den nächsten Zug erreichen wollen und kaum Zeit und Muße für religiöses Innehalten haben. Er wurde nun in Frankfurt gesichtet. Offensichtlich hat er seine private Missionstätigkeit in die hessische Metropole verlegt.

Mainz ist durch sein Verschwinden ein bisschen ärmer geworden. Andere Gestalten sind immer noch da. So fällt mir seit vielen Jahren immer wieder eine Frau auf, die mit verklärtem Blick laut Bibelverse vor sich hersagt, während sie durch die Innenstadt geht. Meistens hat sie einen Einkaufswagen und sammelt Dinge ein, die ihr bedeutungsvoll erscheinen. Sie ist immer ordentlich gekleidet und sieht gepflegt aus. Manchmal findet man sie tagsüber schlafend in der Gotthard- Kapelle im Dom, aber sie muss auch irgendwo eine Wohnung haben, sonst könnte sie nicht so gepflegt sein. Ein Freund hat sie mal in der Psychiatrie kennen gelernt und mir erzählt, sie sei Hostiensüchtig.

Auch andere Menschen fallen mir immer wieder auf, obwohl ich sie nicht kenne: die kleine, sehr dünne Flaschensammlerin mit aufgemaltem Gesicht, die alte Frau, die irgendwo in meinem Viertel wohnt und immer verwirrt wirkt, ein Eindruck, der durch ihr wirres Haar verstärkt wird und die beiden Kumpel, die immer vor der Augustinerkirche sitzen, betteln und dabei gute Laune verbreiten. Es sind auch diese Menschen, die das Stadtbild prägen und ohne die alles austauschbar wäre. Die Reichen und Schönen, die sich horrende Mieten in der Innenstadt leisten können, sehen überall auf der Welt gleich aus. Die vermeintlichen Außenseiter aber geben der Stadt und der Gesellschaft erst ein Profil. Bin ich vielleicht auch einer von Ihnen?