Die schillerndsten Gründergeschichten aus Mainz scheinen von Frauen zu handeln: von der Modedesignerin Anja Gockel zum Beispiel, den N’Eis-Gründerinnen oder von Jana Blume und ihren Vintage-Läden. Sie alle hatten zur richtigen Zeit eine gute Idee für ein Produkt oder eine Dienstleistung. Aber faszinieren Geschichten von erfolgreichen Gründerinnen nicht auch, weil sie etwas geschafft haben, das Rollenerwartungen erst einmal widerspricht? Weil sie als Frauen Unternehmergeist bewiesen haben und sich in der Start-Up-Szene behaupten? Und: Gründen Frauen anders als Männer? Wir befragten eine Expertin und sprachen mit den „Fempreneurs“.
Elisabeth Kolz empfängt uns im Frauenzentrum, wo sie häufig Coachings und Workshops abhält. An den Wänden Plakate, die die Geschichte der Frauenbewegung dokumentieren. Doch Kolz winkt ab: „Manchmal habe ich das Gefühl, das hat alles nicht stattgefunden. Als ich 30 Jahre alt war, wusste ich, es wird sich zu meinen Lebzeiten etwas gravierend verändern müssen. Es hat sich aber nicht viel verändert.“ Seit Jahren beschäftigt sich Kolz in verschiedensten Funktionen mit der gesellschaftlichen Rolle der Frau. Sie war an der Gründung des Netzwerks der Business Moms beteiligt, leitet das Projekt PROF³I (Pro Frauen als Unternehmerinnen, Fach- und Führungskräfte) und führt als erste Vorsitzende des Vereins E.U.L.E seit über zwanzig Jahren Beratungen für Existenzgründer durch. „Frauen brauchen eine andere Beratung als Männer.“, erklärt sie. Das habe mit ihrer Sozialisation zu tun, aber auch mit politischen Rahmenbedingungen. Das Fehlen flächendeckender Kinderbetreuung in Deutschland führe dazu, dass über 40 Prozent der Frauen in Teilzeit arbeiten, so viele wie in keinem anderen europäischen Land. Frauen hätten zwar Berge von Zertifikaten, doch zu wenige kämen in Chefetagen. Oft hapere es an den Rollenmustern von Frauen, die immer noch davor zurückschreckten, sich vollumfänglich mit Finanzen zu beschäftigen oder weiter das Selbstverständnis aufrechterhielten, sie müssten sich um andere Menschen „kümmern“. Frauen seien so in weit höherem Maß von Altersarmut bedroht als Männer. Das Gründen eines eigenen Unternehmens könne eine Chance sein: auf größere Unabhängigkeit und höheren Verdienst. Wenn sich Frauen für die eigene Firma entschieden, stehen laut Kolz die Aussichten sehr gut: „Frauen gründen vorsichtiger und überlegter als Männer. Sie nehmen das sehr ernst und das ist gut so.“ Aber: „Leider denken sie dann manchmal zu klein.“ Deshalb hat Kolz es sich zum Ziel gesetzt, Frauen zu ermutigen, für ihre Ideen zu brennen, ihre gute Ausbildung zu nutzen und Netzwerke aufzubauen.
„Ich habe keine Angst vor Größe“
Ermutigung kann auch bedeuten, Erfolgsgeschichten zu erzählen. Zum Beispiel die von Sarah Kübler: Vor vier Jahren hat die heute 32-Jährige „HitchOn“ im Nebenerwerb gegründet. Sie war damals als Producerin bei ZDF Enterprises angestellt und stellte fest, dass ein Dienstleister für die kreative Zusammenarbeit mit Influencern auf Videoplattformen fehlte. Sarah witterte ihre Chance: Zunächst gründete sie eine eigene Agentur für Influencer- Marketing. Als sie schon in den ersten sechs Monaten Volkswagen und das ZDF als Kunden akquirieren konnte und ihr eine strategische Partnerschaft mit Youtube angeboten wurde, war ihr klar: „Das fliegt.“ – und kündigte ihre Stelle.
Heute hat HitchOn dreißig Angestellte und bietet Videoproduktion und -distribution für alle Social Media-Plattformen an. „Ich hätte lieber schon sechzig Mitarbeiter.“, sagt Sarah. „Klar, der finanzielle Druck steigt, aber mit einem größeren Team wird auch vieles leichter.“ Sie könne jetzt nicht nur in Ruhe in den Urlaub fahren, sondern auch schneller auf Veränderungen im Markt reagieren. Ob es einen Unterschied macht, dass sie als Frau gegründet hat? „Ich selbst habe mir keine Gedanken darüber gemacht, aber mein Umfeld hat zum Teil überrascht reagiert. Und als ich nach der Gründung plötzlich auf jede Bühne gezogen wurde, wurde mir klar, dass es nichts Alltägliches ist.“ Über die Publicity für HitchOn hat sie sich natürlich gefreut.
Selbstständigkeit und persönliches Wachstum
„Frauen wollen oft nicht aus der Komfortzone.“, sagt Elisabeth Kolz. Denn Selbstständigkeit erfordere viel Eigeninitiative, Flexibilität, Ausdauer, Kampfgeist und oft auch permanente Abrufbereitschaft. Ist der Burnout da nicht vorprogrammiert? Für Marleen Haberscheidt war das Gegenteil der Fall. Schon als Projektleiterin in einer Berliner Unternehmensberatung hat sie viel gearbeitet: „Ich hatte 25 Leute in meinem Team und wurde von morgens bis abends mit Dingen konfrontiert, um die ich mich kümmern musste.“ Irgendwann stellte sie starke Stimmungsschwankungen an sich fest: „Wenn man den falschen Knopf gedrückt hat, bin ich explodiert wie eine Bombe.“ Als ihr Freund sie dazu überredete, eine Ärztin aufzusuchen, und diese sie wegen Erschöpfung für sechs bis zwölf Monate krankschrieb, war das für Marleen ein Schock. Durch eine Therapie hat sie gelernt, ihre Grenzen besser einzuhalten und auf ihr Wohlbefinden zu achten. „Bei einem Coaching wurde ich gefragt, was ich tun würde, wenn Geld und Zeit keine Rolle spielen würden. Ich habe geantwortet, ich würde gerne mein Wissen und meine Erfahrungen weitergeben, damit andere Leute sich eine schmerzhafte Erfahrung wie meine ersparen können.“ Auf einer langen Reise hat Marleen eine Yogalehrerausbildung gemacht und sich danach ihren Traum erfüllt. Gemeinsam mit Elisabeth Kolz erarbeitete sie einen Businessplan und erhielt den Gründungszuschuss der Agentur für Arbeit. Im Herbst 2018 machte sie sich mit „Modern Sangha“ selbstständig und berät seitdem Unternehmen und Einzelpersonen nach einem ganzheitlichen Konzept. Ihr erster Kunde war ihr früherer Arbeitgeber, der seinen Mitarbeitern Einzelcoachings von Marleen finanziert. Noch müsse sie sich finanziell einschränken, aber für sie war es trotzdem die richtige Entscheidung: In der Selbstständigkeit falle es ihr leichter, sich Auszeiten zu nehmen und bewusst zu entscheiden, mit wem sie auf welche Weise zusammenarbeiten möchte. Anderen Gründerinnen rät sie, sich früh mit anderen auszutauschen und nicht alles selbst machen zu wollen: Durch ihr BWL-Studium kann sie die Buchhaltung zwar selbst erledigen, aber für die Website ging viel Geld drauf.
Mut zum Risiko und zur Gleichberechtigung
Ob der Schritt in die Selbstständigkeit sich empfiehlt, hängt stark mit der individuellen Lebenssituation zusammen. Vielleicht würde man einer 25 Jahre jungen Frau ohne Arbeitserfahrung und mit kleinen Kindern eher davon abraten – für Dr. Michaela Hagemann war genau das der richtige Zeitpunkt. Kurz nach Abschluss ihres Medizinstudiums bekam sie ihr erstes Kind und stellte fest, dass es auf dem Markt keine Pflegeprodukte gab, die natürlich produziert wurden und trotzdem angenehm dufteten. Gemeinsam mit ihrem Bruder gründete sie 2015 „das boep“ (kurz für „das babyoelprojekt“) und ließ bei einem Hersteller für Naturkosmetik im Allgäu eine Baby-Pflegeserie nach ihren Wünschen entwickeln. Michaela ist überzeugt davon, dass Frauen weniger risikofreudig sind als Männer. Sicherlich haben die Zusammenarbeit mit ihrem Bruder und die Unterstützung ihres Mannes geholfen, der sie finanziert hat, als sie sich noch kein eigenes Gehalt auszahlen konnte. Dennoch sei am Anfang des Berufslebens und mit einer guten Ausbildung das Risiko überschaubar, findet Michaela: „Ich habe mich gefragt: Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Hätte das alles nicht geklappt, hätte ich wieder als Ärztin gearbeitet.“ Wie erfolgreich sie tatsächlich sein würde, hat sie damals nicht geahnt. Schon eineinhalb Jahre nach Lancierung der ersten Produkte wurde „das boep“ in das Sortiment einer großen Drogeriekette aufgenommen. Die Unternehmerin vergleicht die Erfahrungen der letzten Jahre mit einer Achterbahnfahrt: „Wir hatten Erfolg und Misserfolg am gleichen Tag.“ Und bis heute werde ihr mit zwei kleinen Kindern und einer eigenen Firma manchmal alles zu viel. Trotzdem findet sie es wichtig, dass auch mit Kindern beide Partner ihre beruflichen Ziele weiterverfolgen können: „Ein Jahr Elternzeit ist lang. Wenn in dieser Zeit der Mann ein paar Karriereschritte geht, die nicht mehr aufzuholen sind, kommt eine Ungleichheit in die Beziehung, die ich persönlich nicht wollte.“ Obwohl sie berufsbedingt viel reisen muss und das Abschalten manchmal schwer fällt, zweifelt sie nicht an der Qualität der Beziehung zu ihren Kindern: „Meine Mutter war immer berufstätig, für mich ist das normal.“ Kurz nach unserem Interview geht es in den Urlaub. Zum ersten Mal seit langer Zeit hat Michaela diesmal auch eine Abwesenheitsnotiz eingerichtet.
„Ich habe noch sehr viele weitere Ideen“
Auch in Katharina Bahnes Wohnung in einem Neustadt-Hinterhof herrscht spürbare Start-up-Atmosphäre. Erst im Januar hat die 32-Jährige gemeinsam mit zwei Freunden, Moritz Brüggemann und Sascha Radewald eine GbR gegründet. Die Drei treffen sich aktuell noch bei ihr zuhause, und auch ihre Produkte lagern in ihrem Keller: viele Flaschen der „Rheinschorle“ und des Haselnusslikörs „Voll auf die Nuss“. Zuerst gab es die Getränke im LUUPS zu kaufen, mittlerweile werden sie auch von Biogeschäften und vielen Kiosken geführt. Eigentlich hat aber alles mit dem dritten Standbein der Firma angefangen: dem Tischtennis-Rundlauf, der die Freunde zusammengeführt hat. Unter dem Titel „The Tables“ bieten sie Turniere an unterschiedlichsten Orten an und kamen so auf die Idee, dazu passende Getränke zu entwickeln. Mit der Schorlen-Flasche könne man gut um die Platte rennen, und klassischerweise gebe es für den Gewinner einen Likör. Katharina lacht: Quasi aus „Schnapsideen“ habe sich so das Unternehmenskonzept entwickelt. Katharina ist schon lange klar, dass sie selbstständig arbeiten möchte. Nach ihrem Masterstudium „Kommunikation im Raum“ konzipierte sie eine Zeitlang als Angestellte Messestände, bis ihr eine halbe Stelle als wissenschaftliche Assistentin an der Hochschule Mainz angeboten wurde. Die Beschäftigung in Teilzeit ermöglicht es ihr, Verschiedenes auszuprobieren: Sie hat Inneneinrichtungen von Restaurants geplant, gemeinsam mit einem Freund ein Kinderbuch geschrieben und bei LUUPS mitgearbeitet. „Ich hatte immer schon viele Ideen und möchte vor allem abwechslungsreich arbeiten.“, sagt sie. Dass sie mit zwei Männern gegründet hat, sei zwar reiner Zufall, aber Katharina räumt ein, dass viele Frauen spannende Ideen hätten wie sie, dann aber der Mut zur Umsetzung fehle. Sie selbst kann das nicht verstehen: „Ich schmeiße mich gerne ins kalte Wasser, weil ich es spannend finde, zu sehen, was dann passiert.“ Erst einmal hofft sie, in naher Zukunft von der GbR leben zu können. Irgendwann später kann sie sich auch vorstellen, noch einmal zu gründen – dann vielleicht auch alleine.
Frauen als Gründerinnen – vollkommen normal?
Insgesamt gründen dennoch weniger Frauen als Männer: ihr Anteil liegt laut Gründerreport bei 32 Prozent. Etwa 60 Prozent davon erfolgen im Nebenerwerb. Die Gründe sind komplex. Unsere Mainzer Unternehmerinnen zeigen aber, wie erfolgreich Frauen mit unterschiedlichsten Gründermodellen sein können. Ob alleine oder im Team, mit oder ohne Kinder, Vollzeit oder im Nebenerwerb, am Karriere-Anfang oder mit Berufserfahrung: für keine unserer Protagonisten war ihr Geschlecht ein Hinderungsgrund.
Regina Roßbach
Fotos: Katharina Dubno