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Porträt: Bernd Thewes – Avantgarde im Pappkarton


von Nicola Diehl, Fotos: Katharina Dubno

Die blaue Markise flattert im Wind, im Schaufenster stehen Musikinstrumente, undefinierbare Skulpturen präsentieren sich dem Passanten. Was sich hinter dem auffälligen Schaufenster am Gartenfeldplatz 4 verbirgt, wissen die wenigsten. Wer eintritt, wird überrascht: Bernd Thewes hütet Regale voller Noten.
Die weiße Wand seines Altbauateliers versteckt sich hinter einem raumhohen dunkelbraunen Bücherbrett vollgepackt mit grauen Pappkartons. Auf einer der unzähligen Kisten steht „Berlin – Sinfonie einer Großstadt“, nebenan ruhen „Der Doktor Faust“ und zwei Bretter tiefer hat „Der Student von Prag“ seinen Platz gefunden. In den Pappkartons verstecken sich Notenpartituren, alte Zeitungsartikel, Tonmitschnitte, DVDs und viel weiteres Arbeits- und Recherchematerial. Thewes ist Komponist, die Vertonung von Stummfilmen sein Hauptarbeitsgebiet. Der gebürtige Saarländer kam zum Studium der Musikwissenschaft nach Mainz. Seit 2006 arbeitet er in seinem Atelier am Gartenfeldplatz. „Ich war früher schon oft hier an dem Platz, weil zwei Häuser nebenan im Hinterhaus viele befreundete Künstler wohnten“, erzählt er von seiner Studienzeit. Ganz früher war in den Atelierräumen das altehrwürdige Café Gerster, welches sich heute in der Klarastraße befindet. Seit sieben Jahren also arbeitet der 53-Jährige hier. Leute spazieren vorbei und grüßen ihn freundlich. „Den ein oder anderen hier kenne ich mittlerweile. Ich bin froh, das Atelier an dem Platz zu haben“, sagt Thewes, der nur ein paar Straßen weiter sein zuhause hat. Alle zwei Jahre öffnet er zum Neustädter Kunstwochenende „3xKlingeln“ seine Atelierräume für Neugierige, so auch wieder kommenden September.

Musik als Berufung
Wenn Bernd Thewes komponiert, sitzt er im hinteren Zimmer seiner Musikwerkstatt in der Mitte des Raumes am Keyboard. Rechts und links von dem DIN A3-großen Notenbuch breiten sich zwei Bildschirme aus. „Die brauche ich beide, rechts läuft das Notenprogramm und links der Film. Die Musik muss schließlich exakt auf den Film passen“, erklärt Thewes. Dabei beginnt die Komposition eines jeden Stücks mit dem Zusammensuchen von alten Zeitungsartikeln aus Archiven. Denn Thewes vertont hauptsächlich Filme aus den 20er Jahren. In die Zeit und Geschichte der Stücke muss er sich hineinversetzen können. Damals entstand auch die so genannte „Neue Musik / Moderne“, parallel zur Avantgarde. Sie widersetzte sich teils radikal dem Harmonieverständnis der klassischen Romantik und nutzte neue Formen und Rhythmen. Als Protest sehnte sie sich nach Fortschritt und Modernität. So erklingen bei Thewes statt Melodien auch schon mal Geräusche und abstraktere Sachen.

Von Kunst besessen
Thewes ist kein verrückter Komponist mir krausem Haar, vielmehr übt er sich in Bescheidenheit, ist Schwarz gekleidet und will um keinen Preis auffallen, so der erste Eindruck. Er wirkt mehr wie ein Noteningenieur: „Musik muss man immer rechnen und Noten sind Grafik“, lautet seine Meinung. So geht er beim Komponieren fast wie ein Mathematiker vor. Steigt man jedoch tiefer ein, wandelt Thewes sich zum leidenschaftlichen Erzähler und lässt dabei keinen großen Künstler aus, der ihn inspirierte. Namen wie Marcel Duchamp, Hugo Ball und das Cabaret Voltaire, Urzentrum des Dadaismus, Edmund Meisel, Mendelssohn-Bartholdy, Georg Trakl oder Nietzsche schießen wie Fetzen aus seinem Mund und schwirren durch den Raum. Thewes verliert sich gern in Theorie und künstlerischen Konzepten seiner Kompositionen. Zurück bleibt der Laie in hilfloser Verwirrung, beeindruckt von den Gedankengebilden dieses Komponisten, eines Kunstbesessenen. Auch sein früheres Engagement in dem Künstlerkollektiv „Die Beethovenzerstörer“ zeugt davon. Gemeinsam mit Freunden trat er auf einem alten Weingut auf, mit selbst gebauten Licht- und Tonmaschinen. Und genau dieser Sinn für das Verrückte ist ihm bis heute geblieben.