Text: Sophia Weis, Fotos: Jonas Otte
Wenn man durch die Altstadt geht, vermutet man nicht, dass sich zwischen den Fachwerkhäusern des Spätmittelalters, klassizistischen und modernen Wohnbauten der 70er Jahre auch ein wehrhafter Bau der Romanik befindet. Etwas versteckt steht in der Weintorstraße das “Haus zum Stein”, ein städtischer Wohnturm, wie es ihn in Deutschland kaum noch gibt. Moritz und Claudius verbinden das historische Gemäuer mit moderner Technik und innovativen Ideen.
Ein Besuch bei Moritz und Claudius beginnt mit der Suche nach kleinen Steinchen auf dem Gehweg vor ihrem Haus, mit denen man gegen eines der Fenster im Erdgeschoss wirft, um auf sich aufmerksam zu machen. Eine Klingel oder einen Türsummer haben die beiden 25-Jährigen nicht, stattdessen steckt einer der Jungs den Kopf aus dem Fenster und wirft den Schlüssel hinunter, sodass man sich Einlass verschaffen kann. Seit 13 Jahren sind die zwei Technik-Freaks beste Freunde. Bereits als Teenager organisierten sie gemeinsam in ihrer Heimat Pirmasens Partys. Mit einem VW-Bus und einer Anlage tourten sie durch die Gegend und sorgten auf Abi- und Geburtstagsfeiern für den richtigen Sound. Weil es gut lief, beschlossen Moritz und Claudius ihr Hobby zum Beruf zu machen und gründeten mit 18 Jahren eine Firma für Veranstaltungstechnik. Ihr Equipment bauen die beiden selbst, schreinern, basteln, löten, programmieren – alles in ihrer Wohnung in der Altstadt.
Neueste Technik in alten Gemäuern
Durch ein Eisentor gelangt man auf das Grundstück, an dessen Eingang noch ein Schild mit der Aufschrift „Stadthistorisches Museum“ an die ehemalige Nutzung des Gebäudes erinnert. Das „Haus zum Stein“ ist das im Kern älteste Wohnhaus in Mainz. Der über 20 Meter hohe, dreigeschossige Turm erhielt seine charakteristische Form unter Eberhardus de Lapide (vom Stein) um 1250. Typisch sind das Mauerwerk aus kleinen Kalksteinen und die Schlitzfenster, die heute unter Denkmalschutz stehen. Nachdem das Stadthistorische Museum 2003 auszog, standen die Räume zum Verkauf. Einer der Käufer war ein Freund von Moritz und Claudius, der sich das Erdgeschoss zu einer Wohnung umbauen wollte. Er begann Wände und Böden herauszureißen, konnte die Renovierung aber angesichts des enormen Aufwandes nicht zu Ende bringen. 8,5 Tonnen Schutt warteten so beim Einzug in zwei Stockwerke auf Moritz und Claudius. „Die haben wir mit ein paar Freunden in wenigen Tagen beseitigt und dann ging die Arbeit erst richtig los“, lacht Claudius. Im oberen Teil der Wohnung mussten Wände eingezogen und Wasser- und Stromleitungen verlegt werden. Letzteres war vor allem Moritz‘ Job. Er beschreibt sich selbst als „handwerklich recht begabt“, in Wirklichkeit ist er ein wahres Genie, das im Alter von drei Jahren zum ersten Mal einen Lötkolben in der Hand hatte und dessen Leidenschaft bis heute der Physik gilt. Die Wohnung ist gleichzeitig seine Experimentier-Werkstatt, überall fliegen bunte Kabel, Drähte und Elektrobauteile herum. Sein ganzer Stolz ist das Touchpad im Star Trek-Stil, über das die selbstdesignten LEDLichtinstallationen, die Moritz in der ganzen Wohnung eingebaut hat, sowie die Stereoanlage und der Flatscreen-Fernseher gesteuert werden. Demnächst will er das System um eine Sprachsteuerung erweitern.
(Frei-)Raum für alle
So etwas Banales wie eine Heizung gibt es in der Wohnung allerdings bis heute nicht. „Dank der alten, 1,40 Meter dicken Wände kühlt es im Winter nie auf weniger als 12 Grad“, winkt Moritz ab. Damit können die Jungs leben: „Die Wohnung kriegt man auch mit Heizung nur schwer warm, weil wir alles so offen wie möglich gestalten wollten“, fügt er hinzu. Nur zwei winzig kleine Schlafzimmer haben sie vom Wohn- und Arbeitsbereich abgetrennt. „Wir möchten nicht nebeneinander her, sondern miteinander leben, damit hier etwas entstehen kann“, erklärt Claudius. Jeden Abend kommen spontan Freunde und Bekannte vorbei. Dann werden Ideen ausgetauscht, Pläne geschmiedet oder es wird einfach nur zusammen gefeiert. Wenn auch etwas chaotisch, wirkt die Wohnung doch einladend: In der Fassade blitzen an mehreren Stellen die schönen Grundmauern durch, zwei weitläufige Sofas bieten reichlich Platz und aus der Musikanlage mit mehr als zehn Boxen kommt chillige Lounge-Musik.
Werkstatt und ungeahnte Schätze im Keller
Das Highlight ist der riesige „Keller“, direkt unterhalb des Wohnraums, quasi ein eigenes Geschoss, vollgestopft mit Elektrogeräten, Einrichtungsgegenständen und skurrilen Überbleibseln vieler kreativer Projekte. An der Decke hängt ein überdimensionaler, blauer Hai aus Pappmaschee, den Claudius mit einem Freund für eine Veranstaltung im schon schön gebastelt hat. In einer anderen Ecke lagert der Prototyp des Internetbrunnens, der 2010 auf dem Jockel-Fuchs-Platz vor dem Mainzer Rathaus stand und deutschlandweit Aufsehen erregte. Schaut man sich etwas genauer um, stößt man außerdem auf ein Strahlenmessgerät, Leuchtreklameschilder, einen Oszillograph, ein EKG-Gerät und sogar einen Flux-Kompensator wie aus der Filmreihe „Zurück in die Zukunft“. „Ich lebe hier meinen Traum“, erzählt Claudius mit leuchtenden Augen. In einer normalen Wohnung wollte der Rotschopf nie wohnen, sondern war stets auf der Suche nach dem etwas anderen Lebens- und Wohnkonzept. Er hat sich alles selbst beigebracht und plant, irgendwann seinen eigenen Club aufzumachen: „Ich war ganz schön enttäuscht, als ich das erste Mal in einer Diskothek war. Meiner Meinung nach geben sich die meisten Besitzer mit der Ausstattung zu wenig Mühe, dabei kann man doch mit Licht- und Soundtechnik heute so großartige Sachen machen.“ Moritz nickt zustimmend. Dass die beiden derartige Vorhaben in die Tat umsetzen können, daran besteht kein Zweifel …