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Pflege(Notstand): Mehr als einen Waschlappen halten


Von Ejo Eckerle
Fotos Michael Grein

Die Pflege ist in Not – Fachkräfte werden dringend gesucht. Ute Drevermann will helfen.

Das Leben geht gerne Umwege. Die 48-jährige Ute Drevermann aus Mainz kann darüber viel erzählen. Während einer Fortbildungsmaßnahme der Arbeitsagentur kommt die Architektin mit einer Mitstreiterin ins Gespräch. Auch die steht vor dem Problem, nach dem Erziehungsurlaub wieder im Berufsleben Fuß zu fassen. Das gelingt schließlich schneller als erhofft. Noch bevor die Fortbildung endet, bricht die studierte Pflegewissenschaftlerin den Kurs ab und übernimmt eine leitende Stelle in einer Altenpflegeeinrichtung. Für Ute geht es zunächst weiter wie gewohnt: bewerben, Absagen erhalten, bewerben. In der Architektur, so wird ihr langsam klar, bleiben ihr die Türen verschlossen. Zufällig trifft sie ihre Kollegin aus dem Arbeitsagentur-Kurs wieder: „Sie meinte, wir suchen dringend Leute und fragte mich: Kannst du dir vorstellen, in die Altenpflege zu gehen?“

Jetzt, zehn Jahre später, sitzt Ute Drevermann im Garten des Johann-Wichern-Stifts in Wiesbaden, einem Altenpflegeheim, das vom Evangelischen Verein der Inneren Mission (EVIM) betrieben wird. Aus der Arbeit suchenden, ehemaligen Architektin und Mutter von fünf Kindern ist mittlerweile eine Schülerin geworden. Ute absolviert die dreijährige Ausbildung zur examinierten Altenpflegerin. Mit dem 65-jährigen Bewohner Karl-Heinz Hoffmann spricht sie über seine Zukunft. „Herr Hoffmann kann jetzt bald gehen“, erklärt sie. Fällt in einer Pflegeeinrichtung so ein Satz, ist er oft die zaghafte Umschreibung für die Tatsache, dass die letzten Meter des Lebens bevorstehen. Danach sieht es aber an diesem sonnigen Nachmittag überhaupt nicht aus. Im Gegenteil, Herr Hoffmann ist bester Stimmung, macht seine Scherze mit „Schwester Ute“ und freut sich darauf, bald wieder in seine eigene Wohnung ziehen zu können. Richtig, Herr Hoffmann kann gehen, noch etwas wackelig zwar, aber auf eigenen Füßen! Nach zwei Schlaganfällen ist der ehemalige Glas- und Gebäudereiniger im Wichernstift wieder auf die Beine gekommen. Der Rollstuhl, den er noch benutzt, ist für ihn nur noch ein Hilfsmittel, wenn die Kräfte nachlassen. Momente wie diese, so selten sie auch sein mögen, bestärken Ute Drevermann in ihrer Überzeugung, die richtige Berufswahl getroffen zu haben.

„Fachkräfte werden auf der Straße eingefangen“

Der theoretische Teil von Utes Ausbildung findet in der Evangelischen Altenpflegeschule Mission Leben statt, die nur wenige Straßen weiter auf dem Campus der Hochschule Rhein-Main untergebracht ist. Nach langen Jahren, zunächst als ungelernte Hilfskraft, später als Betreuerin für demenziell erkrankte Menschen und einigen Fortbildungslehrgängen entschloss sich die Mainzerin, wieder die Schulbank zu drücken. Das Gute daran: Dank staatlicher WeGebAU-Förderung, bei der ihr Arbeitgeber große Teile ihres früheren Gehalts erstattet bekommt, muss sie keine finanziellen Einbußen hinnehmen. Der Beruf, in dem vielfach noch un- und angelernte Hilfskräfte den Bedarf decken, ist längst eine professionelle Dienstleistung geworden. Soziale, kommunikative und psychologische Fähigkeiten sind dabei ebenso gefragt wie ein hohes Maß an Empathie, Flexibilität und – nicht zuletzt – eine gewisse Frustrationstoleranz.

Vorausgesetzt, Ute schafft ihren Abschluss – und danach sieht es aus – kann sie schon heute mit drei unbefristeten Stellenangeboten rechnen. Pflegekräfte werden mehr denn je im gesamten Rhein-Main-Gebiet händeringend gesucht. Frank Stricker, stellvertretender Geschäftsführer des DBfK, dem Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe, formuliert es knapp, aber treffend: „Der Markt ist leergefegt. Fachkräfte werden auf der Straße eingefangen.“

Ein Blick auf die nüchternen Zahlen: „Die Befragung aller Leistungserbringer in Rheinland-Pfalz ergab, dass diese im Jahr 2010 (neuere Zahlen liegen noch nicht vor. Anm. d. Red.) insgesamt 8.386 Pflegekräfte mit unterschiedlichen Qualifikationen für zu besetzende Stellen gesucht haben. Größter Nachfrager waren mit 3.619 offenen Stellen die (teil-)stationären Pflegeeinrichtungen. Daneben war auch die Nachfrage bei den ambulanten Pflegeeinrichtungen mit 2.771 offenen Stellen groß …“ So ist es im „Branchenmonitoring Gesundheitsfachberufe Rheinland-Pfalz“ nachzulesen, einem bedrückenden Dokument der Mängelverwaltung.

Rationalisierung und ihre Folgen

Sucht man nach Gründen für diesen dramatischen Engpass, muss man ins Jahr 2005 zurückblicken. Spätestens ab da wurden die Krankenhäuser von einer großen Rationalisierungswelle erfasst: Die Pflege wurde auf Kostenersparnis getrimmt, wo es nur ging, gleichzeitig die Verweildauer der Patienten in den Kliniken radikal zurückgefahren. In den folgenden Jahren herrschte faktisch Einstellungsstopp. „Möglicherweise wurden im Zuge der Rationalisierungsprozesse die Ausbildungskapazitäten im Krankenhausbereich etwas verfrüht zurückgefahren“, stellt der Lagebericht dazu inzwischen fest. Dennoch möchte Norbert Finke, der kaufmännische Direktor der Kliniken der Mainzer Universitätsmedizin, angesichts von 2,5 unbesetzter Planstellen pro Klinik nicht sprechen. Die Frage bleibt allerdings, ob der errechnete Planstellenbedarf tatsächlich ausreicht, um die optimale Versorgung sicher zu stellen. Kürzlich nahmen 20 Pflegefachkräfte aus Lettland ihren Dienst an den Unikliniken auf, offensichtlich wurden sie gebraucht, denn der hiesige Arbeitsmarkt gab sie anscheinend nicht her. Übrigens soll diese Anwerbungspolitik fortgesetzt werden, in welchem Umfang, gibt die Klinikleitung allerdings nicht bekannt.

Zwar trifft der Personalmangel Krankenhäuser und Altenhilfe gleichermaßen, doch gerade in der Betreuung alter Menschen tritt der Engpass besonders deutlich zutage. Im „Branchenmonitoring“ heißt es dazu: „Die vertiefenden Fragen zur Stellenbesetzungssituation zeigen, dass die angespannte Fachkräftesituation in den Pflegeberufen vor allem die Einrichtungen der Altenhilfe trifft. Der größere Anteil der Nachfrage wird in diesem Sektor generiert. So war die Nachfrage nach Pflegefachkräften in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen zusammen etwa 2,4 Mal so hoch, wie in Krankenhäusern und Rehabilitationskliniken.“

Die Pflege steckt im Korsett

Ute Drevermann und ihre Kolleginnen bekommen diese Defizite zu spüren. Sie erinnert sich an bessere Zeiten, als in jeder Schicht drei Pflegekräfte zwölf Menschen zu versorgen hatten. Später kümmerten sie sich zu zweit um 24 Bewohner und schließlich fand sie sich alleine auf Station wieder, zuständig für die Bedürfnisse von zwölf Menschen. Die Pflege steckt in einem Korsett, das ihr von Politik, Krankenkassen und Pflegeversicherung in den vergangenen Jahren immer enger geschnürt wurde. Dennoch hat sich Ute Drevermann einen unerschütterlichen Optimismus bewahrt: „Der schönste Auftrag für mich ist, den Menschen so zu helfen, dass sie sich wieder selbst versorgen können.“

Sie erinnert sich an ihre Unbedarftheit, mit der sie vor zehn Jahren in den Beruf eingestiegen ist. Ein Sprung ins sprichwörtlich kalte Wasser: „Die guckten damals, dass ich einen Waschlappen halten kann, als sie sahen ich kann‘s, haben sie michlosgeschickt.
Dass da mehr hinter der Arbeit steckt, ist mir dann schon im Laufe der Zeit im Umgang mit den Menschen klar geworden.“ Längst hat sie schon weitere Ziele ins Auge gefasst. „Ich habe gemerkt, dass mich auch die palliative Pflege, also alles, was die Betreuung von sterbenden Menschen ausmacht, sehr interessiert. Das betrifft auch viele Demenzkranke in ihrem Endstadium. Da ist das Examen eine Grundvoraussetzung.“

Aber jetzt wird erst mal getanzt. Herr Hoffmann möchte seine neu gewonnene Beweglichkeit unter Beweis stellen. Galant greift er nach Ute Drevermanns Händen und für Ute steht fest: Sie ist auf dem richtigen Weg.