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Obdachlosigkeit in Mainz: Hausbesuche auf der Straße


Text: Ejo Eckerle, Fotos: Katharina Dubno

Der Arzt Gerhard Trabert behandelt wohnsitzlose Menschen – jetzt gründet er ein medizinisches Zentrum für all jene, die unser Gesundheitssystem vergessen hat.

Als Gerhard Trabert die Füße jenes Mannes sah, der sich da auf dem Sitz in seinem Arztmobil niedergelassen hatte, wusste er, dass höchste Eile geboten ist. Die Zehen des Patienten hatten sich bereits schwarz verfärbt, abgestorben, eine Folge von Infektionen und schweren Erfrierungen. Sofort wies er ihn ins Krankenhaus ein, ahnend, dass dem 44-Jährigen eine Amputation drohte. „Das war wirklich hochdramatisch, ich sagte ihm, wenn sie jetzt nicht in die Klinik gehen, sterben sie.“ Trabert sollte Recht behalten. Dem Mann wurden beide Vorderfüße entfernt. Zwar ist sein Leben gerettet, doch wie es weiter geht, ist unklar. Der Patient wird nach seiner Genesung erst wieder das Laufen erlernen müssen. Dafür benötigt er teure Spezialschuhe. Trabert ist ratlos. Er hat mit dem Verwaltungschef des St. Vincenz-Klinikums telefoniert, wo Adam J. jetzt darauf wartet, dass die Wunden abheilen. „Sowohl das Sozialamt als auch das Jobcenter lehnen es ab, die anstehende Reha und die Schuhe zu bezahlen.“ Wer ohne Krankenversicherung, Wohnung oder Einkommen ist, fällt durchs Raster. Die Frage „Wer ist der Kostenträger?“ gehört inzwischen zu den am häufigsten gestellten im deutschen Gesundheitswesen. Wer darauf keine befriedigende Antwort geben kann, gerät in Bedrängnis. Das beginnt schon bei Hilfsmitteln wie Brillen oder Hörgeräten, ganz zu schweigen von Zahnersatz. All das ist in unserem Versorgungssystem nur noch gegen Bares oder Zuzahlungen erhältlich. Wer das Geld dafür nicht hat, sieht alt aus, trägt Lücken im Gebiss, hört und sieht schlecht. Zwanzig Prozent seiner Klientel, sagt Trabert, benötigten eigentlich eine Brille. Adam J. war vor einigen Jahren zusammen mit seiner Frau nach Mainz gekommen und hat sich mit Schwarzarbeit durchs Leben geschlagen. Als er seine Arbeit verlor, seine Frau sich von ihm abwandte, folgte der Griff zur Flasche und er landete auf der Straße. So will es das Klischee, doch Trabert widerspricht. Längst nicht jeder, der sein Leben auf der Straße fristet, ist Alkoholi ker. Aber häufig sind es einschneidende Lebenskrisen, wie Jobverlust, Scheidung oder Tod eines Lebenspartners, die den Weg in die Obdachlosigkeit bahnen. Doch warum wirft so ein dramatisches Ereignis den einen Menschen aus der Bahn und den anderen nicht? Trabert verweist auf die so genannte Kauai-Studie der amerikanischen Psychologin Emmy Werner, die Belege dafür gefunden hat, dass die frühe Wertschätzung eines Menschen eine wichtige Rolle spielt. „In gewisser Weise“, sagt er, „holen wir dieses Versäumnis nach. Indem wir zu ihnen fahren, zeigen wir ihnen auch, dass wir sie wertschätzen.“ Verbunden damit sei immer die Hoffnung, dass dies ein Nachdenken auslöse, etwa nach dem Motto: „Wenn schon der Doktor zu jemanden wie mir kommt, dann bin ich vielleicht doch auch was wert und sollte mich besser um mich kümmern.“

Armut macht krank
Manche von Traberts Patienten führen ihren eigenen, stillen Kampf. Der 36-jährige Andrej ist so jemand. Seit 18 Monaten habe er keinen Tropfen mehr angerührt, versichert er uns. Vor einem Jahr wurde er auf die Intensivstation eingewiesen. Die Entzündung seiner Bauchspeicheldrüse hatte bedrohliche Ausmaße angenommen. Er weiß, sollte er wieder zu trinken beginnen, könnte dies sein Todesurteil bedeuten. Gerhard Trabert begegnet als Obdachlosenarzt dem offensichtlichen und versteckten Elend in unserer Gesellschaft. Und es bestätigt immer wieder seine These: Armut macht krank. Mehr noch: „Menschen ohne Wohnung begehen einen chronischen Suizid“, sagt der Mediziner. Ein Drittel von ihnen stirbt auch dort, wo sie leben, auf der Straße. Neun Obdachlose starben im letzten Jahr in Mainz, drei wurden tot auf der Straße gefunden. In einem Hängeschrank hinter dem Fahrersitz seines Ambulanzmobils stecken die Patientenakten all jener, die er seit 15 Jahren begleitet. 2012 kamen 3.800 „Patientenkontakte“ zustande. Zuhören, beobachten, genau hinsehen – die Arbeit erfordert einen erfahrenen Diagnostiker, denn auf das Arsenal der Medizin-High-Tech kann der Arzt in seiner mobilen Praxis nicht zurückgreifen. Viermal in der Woche klemmt sich Trabert (oder einer seiner Kollegen) hinter das Lenkrad des weißlackierten Sprinters und fährt zu den Patienten. Neben der Teestube der Pfarrer-Landvogt-Hilfe macht er Station im Hof des Heinrich- Egli-Hauses von der Inneren Mission. Im Winter steuert er auch die Container am Fort Hauptstein an, die von der Stadt aufgestellt wurden. Sie bieten in der kalten Jahreszeit Unterkunft für 24 Wohnungslose. Ein Grüppchen hat sich davor versammelt und erwartet den Arzt schon, darunter auffällig junge Männer und Frauen. „Albino“, ein stämmiger 21-Jähriger mit grün gefärbtem Haarschopf, trägt um seine rechte Hand einen Verband. „Die Containerwand ist gegen Hand gefallen“, lautet seine etwas rätselhafte Auskunft über den Grund für die Verletzung. Gerhard Trabert tippt auf einen gebrochenen kleinen Finger und gibt dem jungen Mann einen Überweisungsschein für den Chirurgen. Schmerztabletten und eine Salbe bekommt er auch noch. Noch neun weitere Patienten warten darauf, in das dank einer kräftigen Standheizung wohl temperierte Behandlungsmobil eingelassen zu werden. Neben einem Medikamentenvorrat führt der Bus auch Schlafsäcke und Isomatten mit, die kostenlos an Bedürftige abgegeben werden.

Wider die Ignoranz
Mit dem Thema soziale Gerechtigkeit ist Gerhard Trabert schon früh in Berührung gekommen. Er ist in einem Waisenhaus aufgewachsen, als Sohn des Erziehers. Früh entwickelte er ein Bewusstsein für gesellschaftliche Schieflagen. Zunächst studierte Trabert Sozialarbeit. Weil er sich – wie er sagt – über die Ignoranz von Ärzten ärgerte, absolvierte er zusätzlich ein Medizinstudium und erwarb die Facharztanerkennung für Allgemein- und Notfallmedizin. Noch immer bezeichnet er sich als „Sozialarbeiter mit spezieller Qualifikation in Medizin“. Heute lehrt er hauptberuflich als Professor für Sozialmedizin an der Hochschule Rhein Main. Als erster Arzt in Deutschland erhielt er eine spezielle Erlaubnis der Kassenärztlichen Vereinigung, die ihm die ambulante Behandlung wohnsitzloser Menschen gestattet. Etwa die Hälfte seiner Patienten ist krankenversichert. Dass er für sie die Behandlungskosten regulär abrechnen kann, ist ihm wichtig. Er möchte keine „Nischenmedizin für Arme“ betreiben, sondern fordert den Beitrag des allgemeinen, regulären Gesundheitssystems für seine Patienten immer wieder ein. Dazu zählt auch, dass er sie an Fachärzte oder Kliniken überweist, wenn dies nötig ist. Derzeit entsteht auf der Zitadelle, in den Räumen der Pfarrer-Landvogt- Hilfe, sein neuestes Projekt, eine medizinische Ambulanz mit Untersuchungsräumen für weitere Fachärzte. Ein pensionierter Internist, ein Gynäkologe und ein Zahnarzt haben bereits ihre ebenfalls ehrenamtliche Mitarbeit angekündigt, mit festen, regulären Sprechzeiten. Wenn alles klappt, steht den Ärzten dann auch ein modernes Ultraschallgerät zur Verfügung. Um die Organisation des Praxisbetriebes sollen sich eine Krankenschwester und ein Sozialarbeiter kümmern, die vom Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“ angestellt sind. Zielgruppe dieser Einrichtung sind nicht nur wohnungslose Menschen: „Wir reagieren damit auf die Tatsache, dass zunehmend auch nicht wohnungslose, arme Menschen medizinische Beratung und Hilfe erfragen. Sie sind häufig nicht krankenversichert oder können sich bei den hohen Zuzahlungen keine Behandlung leisten.“ Im März, hofft Trabert, kann das Zentrum seinen Betrieb aufnehmen. Die Kosten dafür beziffert er auf rund 120.000 Euro im Jahr. Für dieses Jahr sei zwar erst rund ein Viertel der kalkulierten Ausgaben gedeckt, aber er ist optimistisch, dass sich auch dieses Problem noch löst, versichert der Helfer der Straße.