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Menschen statt Moneten: Gemeinwohl-Ökonomie

von Lisa Simonis     Fotos Katharina Dubno

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Immer neue Krisen erschüttern unsere Welt. Finanzkrise, Bankenkrise, Wirtschaftskrise, Euro-Krise, Griechenland. Bei den meisten Krisen geht es vor allem um eins: Geld. Geht es nach dem Diktat der Wirtschaft, müsste das „Humankapital“ immer günstiger, effizienter und produktiver sein, um noch schneller noch mehr Geld zu verdienen, davon mehr auszugeben, um den Geld-Kreislauf am Leben zu erhalten. Man könnte meinen, wir seien Gefangene in der Mühle des Dauerkonsums.

Und dieses System beruht einzig und allein auf einem Faktor: Wachstum. Unternehmen haben demnach keine andere Perspektive, als weiter zu wachsen. Denn durch die Crux von Zins und Zinseszins müssen sie expandieren und ihren Gewinn maximieren, um wiederum die Zinsen tilgen zu können. „Wohlstand durch Wachstum“, so lautet das Credo der Moderne, das bereits in der Schule als alternativlos gepredigt wird. Das Wirtschaftswunder der 50er Jahre hat gezeigt, dass dieser Satz seine Berechtigung hatte.

Nur: Spätestens in den 90er Jahren wurde er ad absurdum geführt. Wirklich reich wurde nur eine Minderheit. Ein Fünftel der Menschheit beansprucht 83 Prozent der Weltgütermenge. Oder anders ausgedrückt: 2014 ist das globale Geldvermögen um zwölf Prozent gestiegen. Besonders stark legte die Zahl der Millionärshaushalte zu. Wir müssen uns daher fragen: Löst das Anhäufen von Wohlstand unsere Probleme oder verschärft es sie?

Christian Felber, Gründer von attac Österreich, hat sich diese Frage immer wieder gestellt. Er diagnostiziert unserer Wirtschaft einen akuten Werteverfall. Vertrauen, Respekt, Wertschätzung und gegenseitige Hilfe, also jene menschlichen Werte, die bereits Kindergartenkinder erlernen, sind in der Wirtschaft kaum bis gar nicht vorhanden. Die freie Marktwirtschaft ist geprägt von Gewinnstreben und Konkurrenz, von Gier, Geiz und Rücksichtslosigkeit. Gemäß dem Motto: Unterm Strich zähl’ ich.

Vom Einzel- zum Gemeinwohl

Wir treffen Christian Felber, 42 Jahre, rotblonde Haare, jungenhaftes Gesicht, an einem stürmischen Mittwochabend in Frankfurt. Er soll bei einer Podiumsdiskussion am Rande des „Lichter Filmfests“ sprechen. Das Thema der Veranstaltung: Geld. System, Krise, Alternativen. Ironischerweise feiert genau an diesem Tag das neue Hauptquartier der Europäischen Zentralbank Eröffnung. Doch Proteste der Blockupy-Aktivisten legen das Bankenviertel lahm.

Auch Felber ist Aktivist, aber Krawall und Remmidemmi sind nicht sein Stil. Er hat vor fünf Jahren eine Bewegung begründet, die einen so simplen wie radikalen Gegenentwurf zum Bankenkapitalismus schafft: die Gemeinwohl-Ökonomie. Seine Idee: Eine demokratische Wirtschaftsordnung, die auf die Maximierung von Gemeinwohl abzielt – und nicht ausschließlich auf die Vermehrung von Finanzkapital. Finanzgewinne sollen nicht mehr länger das Hauptziel wirtschaftlichen Handelns sein, sondern nur noch Mittel zum Zweck – um Gemeinwohl zu schaffen.

Um für Gesundheit, Bildung, Wohnraum und gute Ernährung zu sorgen, und um Gemeinschaftswerte wie Solidarität, Gerechtigkeit und eine intakte Umwelt zu erreichen. „Unser Wirtschaftssystem hat einen Denkfehler“, sagt Felber. „Es ist eine ganz klassische Ziel- und Mittelverwechslung. Das Ziel sollte sein, dass es dem Menschen und seiner Umwelt gut geht. Geld ist da nur ein Mittel.“ Kein abwegiger Gedanke, schließlich ist in jeder demokratischen Verfassung „Gemeinwohl“ als wesentlicher Wert verankert. So heißt es in Artikel 52 der rheinland-pfälzischen Landesverfassung: „Die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen findet ihre Grenzen in der Rücksicht auf die Rechte des Nächsten und auf die Erfordernisse des Gemeinwohls. Jeder Missbrauch wirtschaftlicher Freiheit oder Macht ist unzulässig.“

Dass Felber Recht haben könnte, zeigen erste Erfolge: Die Gemeinwohl- Ökonomie (GWÖ) existiert längst nicht mehr nur als Utopie auf dem Papier, sie hat sich innerhalb weniger Jahre zu einer weltweiten Bewegung gemausert. Über 8.000 Menschen und Unternehmen unterstützen sie, von Österreich über Venezuela bis nach Mainz. Denn auch hier machen sich immer mehr Menschen Gedanken, wie sie leben wollen. Und vor allem: wie sie arbeiten wollen.

Gemeinwohl auch in Mainz

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Einer dieser Querdenker ist Thomas Hahner. Er hat vor 16 Jahren die Software-Firma „Drivve“ gegründet. 25 Mitarbeiter beschäftigt er in der Firmenzentrale auf dem Phönix-Hallen- Gelände in Mombach. Das Unternehmen ist weltweit vernetzt. Und erfolgreich: Hahner musste noch nie einen Mitarbeiter aus wirtschaftlichen Gründen entlassen. „Ich habe schon immer großen Wert auf ein faires, familiäres Arbeitsklima gelegt“, betont er.

Sein Unternehmen ist langsam gewachsen, Nachhaltigkeit spielt eine große Rolle. Das heißt: Gewinn ja, aber nicht um jeden Preis. „Die meisten meiner Mitarbeiter haben ihre Häuser bereits abbezahlt, ich nicht.“ Der Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesch im April 2013 brachte Hahners Weltbild ins Wanken. „Man stellt sich die Frage: Wie kann ich eine Alternative schaffen? Wie kann ich selbst einen Beitrag leisten, um dieser Ungerechtigkeit entgegenzutreten?“

Er besucht eine Veranstaltung der Transition-Town-Bewegung, lernt dort viel über den Zusammenhang von Wirtschaft, Klimawandel, Umweltzerstörung und Ausbeutung – und hört zum ersten Mal von der Gemeinwohl-Ökonomie. Der Mainzer Geschäftsmann erkennt sein Wertebild in Felbers Theorie wieder und schließt sich der Bewegung an. Seit Anfang dieses Jahres führt Thomas Hahner die Gemeinwohl-Ökonomie bei Drivve ein. Gerade erstellen sie ihre erste Gemeinwohl-Bilanz. Laut GWÖ-Gründer Christian Felber soll die Gemeinwohl-Bilanz in Zukunft die Finanzbilanz ablösen.

Das heißt, dass Unternehmen am Ende des Geschäftsjahres nicht mehr ihren Gewinn bilanzieren, sondern vielmehr auflisten, wie ökologisch, solidarisch, fair und demokratisch sie gewirtschaftet haben. Je ethisch korrekter ein Unternehmen handelt, desto besser wird auch die Bilanz. Dabei werden auf einer Punkte-Skala verschiedene Kriterien bewertet, darunter die Erzeugung sinnvoller Produkte, ökologische Nachhaltigkeit oder faire Beziehungen zu Lieferanten und Mitarbeitern.

2011 hat sich die Sparda-Bank München als eines der ersten Unternehmen weltweit dazu entschlossen, eine Gemeinwohl-Bilanz zu erstellen. Sie erreichte 385 Punkte, ein guter Mittelwert. Der Outdoor-Ausrüster „VAUDE“ hat im April dieses Jahres seine erste Gemeinwohl-Bilanz veröffentlicht – mit +508 Punkten. Felber schlägt in seinem Modell vor, dass eine gute Gemeinwohl-Bilanz rechtliche Vorteile nach sich ziehen könnte: niedrigere Steuern, geringere Zölle, günstigere Kredite. Außerdem sollten bei Großunternehmen ab einer bestimmten Größe (ab 250 Beschäftigten) Stimmrechte und Eigentum nach und nach an die Angestellten und die Allgemeinheit übergehen.

Kritiker werfen Felber vor, er sympathisiere mit Enteignungsstrukturen sozialistischer Systeme. Dennoch: Heuschrecken-Kapitalismus hat ebenfalls ausgedient. Laut einer Studie der Bertelsmann- Stiftung von 2012 plädieren 88 Prozent der Deutschen für eine neue Wirtschaftsordnung. Der Mainzer Entrepreneur Thomas Hahner hofft, gegen Ende des Jahres seine erste Gemeinwohl-Bilanz präsentieren zu können. Die GWÖ ist nur eine „Facette im Mosaik der Transformationskräfte“, sagt Christian Felber. Aber was sie alle eint, ist ein Gedanke: Mensch und Natur stehen im Zentrum – und nicht das Geld. „Das Geld ist nur das Mittel“, betont er, „und der Mensch ist immer Teil dieses Planeten, das dürfen wir nicht vergessen.“

Nachhaltige Möhren

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Von diesem Gedanken ist auch Daniel Kalbfuß überzeugt. Der 26-jährige Mainzer lebt seit fünf Jahren vegan. Seit gut einem Jahr führt er gemeinsam mit seiner Freundin Sarah Tritschler das Eco-Café MöhrenMilieu in der Neustadt – aus Überzeugung. „Es gibt nichts, was unseren Wohlstand noch verbessern könnte“, sagt Daniel. „Wir haben alles, sogar viel zu viel davon, und auch fliegende Autos würden unser Leben nicht vereinfachen.“ Daniel und Sarah wollen zeigen, dass weniger manchmal mehr ist.

Die Inneneinrichtung ihres Cafés haben die beiden aus upgecycelten Materialien selbst zusammengezimmert. Und auch beim Essen geht es ihnen um Nachhaltigkeit. „Es gibt ein gewisses Kontingent, und wenn es abends leer ist, dann ist es halt leer. Bei uns gibt es kaum Reste. Unser Gemüse ist saisonal und wenn jemand einen Smoothie zum Mitnehmen bestellt, dann kommt der in Glasflaschen, um weniger Müll zu produzieren.“

Auch wenn Daniel und Sarah sich nicht der Gemeinwohl-Ökonomie angeschlossen haben, so entspricht ihre Haltung dem Geist der Bewegung: Es geht um den Sinn von Arbeit. Und darum, einen Beitrag zu leisten. Bei Daniel und Sarah ist es der vegane Gedanke, den sie durch ihr Essen vermitteln wollen. „Wenn es sich nur ums Geld drehen würde, dann würden wir das hier nicht machen“, sagt Daniel. 10 Prozent ihres Gewinns spenden die beiden Jungunternehmer an soziale und ökologische Projekte. „Wir wollen was tun, was die Gesellschaft und die Natur nicht beraubt, sondern ihr etwas zurückgibt. Das ist unser Ansporn und Ehrgeiz, etwas Gutes zu machen, wo wir 100 Prozent dahinter stehen

Gemeinnützig und integrativ

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Auch die gemeinnützige Gesellschaft für psychosoziale Einrichtungen (GPE) aus Mainz ist ein Beispiel, dass erfolgreiches Wirtschaften nicht unbedingt nur auf Gewinn ausgerichtet sein muss. „Bei uns steht der Mensch im Zentrum“, sagt Geschäftsführer Jörg Greis. Dass die GPE dennoch etwas richtig zu machen scheint, zeigt ihr Erfolg: vom Gasthof Grün in der Neustadt, bis zum Bio-Supermarkt natürlich, einem Hotel in der Oberstadt, einer Schreinerei und sogar einer Buchbinderei – die knapp 270 Angestellten gestalten das städtische Leben in Mainz entscheidend mit.

Die GPE beschäftigt Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen: „Auch sie haben ein Recht auf Beschäftigung“, sagt Jörg Greis. „Sie haben ein Recht darauf, das Haus zu verlassen und eine Tätigkeit zu verrichten, auch wenn die hinterher nicht betriebswirtschaftlich messbar ist oder nochmal ergänzt werden muss.“ Vielleicht liegt hier das Geheimnis. Erfolg oder Leistung werden stets an monetären Werten gemessen. Wie viel Geld liegt auf dem Konto? Wie groß ist das Haus? Bei der GPE zählt vor allem eines: Solidarität.

Sie versucht, Menschen ihre Würde und ihr Selbstbewusstsein zurückzugeben. „Bei den Projekten kommt es uns auch darauf an, dass wir etwas für das Gemeinwohl tun“, erzählt Greis. So kochen die Kantinen der GPE Essen an Mainzer Schulen – und die hauseigene Schreinerei tischlert Möbel für die städtischen Kindergärten oder die Buchbinderei BUNT&bündig. „Wir wollen keine Sonderwelten schaffen“, betont Greis, „deshalb sind wir mittendrin.“

Krise als Chance

Auch Thomas Hahner ist bald „mittendrin“: nämlich in einer alten Güterhalle am Mainzer Hauptbahnhof. In dem 300 Meter langen und über 200 Jahre alten Gebäude soll Anfang 2016 ein Coworking-Space entstehen mit Büros, Meetingräumen und Schreibtisch-Arbeitsplätzen – sogar eine Kaffeerösterei soll hier ihr Zuhause finden. Das Projekt „Coworking M1“ wurde von der Open-Source-Genossenschaft „Synthro“ initiiert, die Hahner mit einigen Gleichgesinnten Anfang des Jahres gegründet hat. In ihrer Satzung ist auch die Gemeinwohl-Ökonomie verankert.

Es gebe zwar viele Ideen in Mainz, erzählt Hahner, aber sie scheiterten oftmals – weil es entweder an Geld, an Konzept oder an Planung fehle. „Synthro“, und auch seine zweite Genossenschaft „Gemainzam“, verstehen sich als „Projekt-Gefäße, die Ideen eine Heimat bieten“. Neben dem Coworking beschäftigen sich Hahner und sein Team auch mit urbanen Wohn-Projekten oder regenerativen Energien.

Es bewegt sich etwas in Mainz und in der Welt. Egal, ob man das Gemeinwohl-Ökonomie nennt oder anders: Es gibt Alternativen. Und gerade die Krisen unserer heutigen Zeit könnten erste Anzeichen dafür sein. Das Wort „Krise“ kommt aus dem Griechischen und heißt nicht von ungefähr so viel wie „Entscheidung“ und „Wendepunkt“. Ob MöhrenMilieu, GPE oder Synthro – sie alle sind Beispiele dafür, wie ein anderes Wirtschaftssystem aussehen könnte, in dem Werte wie Solidarität, ökologisches Bewusstsein und Achtsamkeit im Zentrum stehen. „Besitz ist keine Leistung“, sagt Christian Felber. Irgendwie hat er Recht.