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Mainzer Stadtteile: Der Lerchenberg

Text: Andreas Schröder
Fotos: Michael Grein

„Jubiläumssiedlung“, „Medienhügel“, „Monte Schlambes“ – Die Ehrentitel, die die Mainzer ihrem Lerchenberg im Laufe der Jahre gegeben haben, tragen große Erwartungen und kleine Enttäuschungen in sich. Letztere sind eng mit der Entstehungsgeschichte des Stadtteils verbunden. Der Lerchenberg ist eine geplante Siedlung, ein Modell und in gewisser Weise auch ein städtebauliches Experiment. Zu jedem Zeitpunkt gab es klare Vorstellungen, was der Lerchenberg sei und wie er auszusehen habe. Noch heute wird diese Vorstellung durch die Gruppe der ersten Lerchenberger entscheidend mitgeprägt. Doch mit dem Bau der Gustav-Mahler-Siedlung und in Folge des anstehenden Generationenwechsels ändert sich die Gesellschaft im Stadtteil grundlegend. Der Lerchenberg muss ein neues Selbstverständnis finden.
Dr. Ulrich Eicheler lebt von Anfang an auf dem Lerchenberg. Er ist das lebende Gedächtnis des Stadtteils und hat dessen Lokalpolitik entscheidend mitgeprägt. Eicheler ist der Gründervater der CDU auf dem Lerchenberg und wurde 1994 der erste christdemokratische Ortsvorsteher nach 25 Jahren SPD-Herrschaft. Aris Kaloianis arbeitet erst seit wenigen Jahren auf dem Lerchenberg. Als Leiter des Regenbogentreffs ist er der erste Ansprechpartner der Bewohner der Gustav-Mahler-Siedlung. Beide haben unterschiedliche Ausgangspunkte und Sichtweisen auf das Quartier und beobachten doch, wie auf dem Lerchenberg langsam aber sicher eine neue Gesellschaft entsteht.

Bereit, einiges auf sich zu nehmen

„Das waren richtige Pioniere“, sagt Ulrich Eicheler über die ersten Lerchenberger, die 1967 ihr neues Zuhause zwischen Ober-Olm und Drais bezogen hatten. Es gab keine Schulen, keinen öffentlichen Nahverkehr, keine Infrastruktur. „Eine kleine Einkaufsbaracke bot in der Anfangszeit gerade das Notwendigste an“, so Eicheler, der 1968 auf den Lerchenberg zog. Er erinnert sich noch gut an diese ersten Jahre. Die Menschen seien damals noch bereit gewesen, einiges auf sich zu nehmen. „In Gummistiefeln, die Schuhe in der Hand, habe ich mich jeden Morgen zu meinem Auto vorgekämpft – und dann gehofft, dass ich ohne Anschieben von der Stelle komme.“ Der Name „Monte Schlambes“ erinnert heute noch an die Zeit, als der Lerchenberg eine Großbaustelle war.
1962 ist die „Jubiläumssiedlung“ anlässlich des 2.000. Geburtstags der Stadt offiziell gegründet worden. Möglich wurde der Stadtteil durch eine großzügige Schenkung von fast 70 Hektar Fläche des Landes an die Stadt Mainz. 15.000 Menschen sollten nach dem Willen des „Vaters des Lerchenbergs“, des damaligen ersten Bürgermeisters und Liegenschaftsdezernenten Dr. Josef Hofmann, am Rande des Ober-Olmer Walds ein Zuhause finden und so Druck von der Landeshauptstadt nehmen, die unter einem vom Krieg gezeichneten Wohnungsmarkt litt. Schon in der Planungsphase wurde aber klar, dass sich der Lerchenberg nicht in dieser Größenordnung verwirklichen lassen würde. Die Stadt brauchte Flächen, wollte Sie doch mit dem Nachbarn Wiesbaden um die Ansiedelung des Zweiten Deutschen Fernsehens konkurrieren.

Bürgerinitiativen von Anfang an

Die Pionierstimmung ist bei den meisten Lerchenbergern inzwischen verloren gegangen. „Wir sind alt geworden, das ist halt der Lauf der Dinge“, zuckt Eicheler mit den Schultern und lächelt. Eine andere Qualität aus den Anfangsjahren hat man sich auf dem Lerchenberg dagegen erhalten: die Bereitschaft zu bürgerschaftlichem Engagement und den Willen, für die eigenen Interessen und die des Stadtteils zu kämpfen. Es kommt nicht von ungefähr, dass in einem Quartier mit nur knapp 6.000 Einwohnern gleich mehrere Bürgerinitiativen gegen Fluglärm und für saubere Luft streiten. Von Anfang an haben sich die Menschen organisiert – egal ob es um den Standort von Abfalleimern oder um den Kampf für eine Schule für den einst kinderreichen Stadtteil ging. Nicht selten bekamen die Lerchenberger ihren Willen. Das ZDF hat seine Pläne, den Standort zu einem Medienpark auszubauen bereits 2003 auf Eis gelegt. Die Anwohner hatten eine unzumutbare Verkehrsbelastung befürchtet. Auch die Mainzelbahn wird nach den letzten Bürgerbeteiligungen vermutlich nur bis zum Schulzentrum fahren. Nur einmal mussten sich die Alteingesessenen geschlagen geben: beim Bau der Gustav-Mahler-Siedlung. „Auch dagegen hatten wir gekämpft“, sagt Eicheler.
Der Bau der 269 Sozialwohnungen war sicher einer der größten Einschnitte in das Selbstverständnis des wohlhabenden und gutbürgerlichen Lerchenbergs. Auch hier war der Widerstand, wie sich Eicheler heute erinnert, groß. Dass auf einmal Menschen aus 18 Nationen als Nachbarn in das Reihenhausidyll kommen sollten, verunsicherte viele Alteingesessene. Tatsächlich gab es, so Eicheler, anfangs einige Probleme. Schließlich habe sich die Wohnbau Mainz gezwungen gesehen, einen privaten Sicherheitsdienst für die Mahler-Siedlung einzurichten, erinnert sich der damalige Ortsvorsteher.

Am kürzeren Hebel

Dass der alte Lerchenberg und die Neuankömmlinge bis heute nicht richtig zusammengewachsen sind, könne aber nicht allein den Bewohnern der Mahler-Siedlung zur Last gelegt werden, betont Aris Kaloianis. Der Sozialarbeiter ist Leiter des Regenbogentreffs, einer Einrichtung, die sich mit Hausaufgabenbetreuung und Kulturangeboten in erster Linie an die Kinder des Viertels richtet, die aber auch Sprechstunden für Erwachsene anbietet und bei den unterschiedlichsten Hürden wie zum Beispiel Behördengängen hilft. „Unsere Leute stehen unter einem Generalverdacht“, ärgert sich Kaloianis. Er berichtet von E-Mails, in denen von zerbrochenen Flaschen am anderen Ende des Lerchenbergs die Rede ist. Die Aufforderung, den Missstand zu beseitigen, folgt wenig freundlich einige Zeilen tiefer. Für den Schreiber sei es wohl undenkbar gewesen, dass die Bewohner der Mahler-Siedlung nichts mit dieser Schandtat zu tun gehabt haben könnten. „Unsere Leute hier sitzen am kürzeren Hebel und das wissen sie“, sagt Kaloianis. Die meisten Bewohner der Siedlung zögen sich daher eher zurück.
Trotz einzelner Vorkommnisse nehmen die Spannungen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen des Lerchenbergs aber seit einigen Jahren ab, das können Kaloianis und Eicheler bestätigen. „Anfangs ist man mit dem Rücken zueinander gesessen, heute geht man verstärkt aufeinander zu“, so der Sozialarbeiter. Danken müsse man – auch in diesem Punkt herrscht Einigkeit – dem Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“. Besonders die Projekte aus dem jetzt auslaufenden Bildungsfonds hätten dazu beigetragen, beide Gruppen besser miteinander zu vernetzen.

Generationenwechsel

Auch wenn die Entwicklungsgeschichte des Lerchenbergs heute weniger als früher von markanten Einschnitten gezeichnet ist und sich der Stadtteil mehr und mehr auf natürliche Weise entwickelt, steht seinen Bürgern noch ein tiefgreifender Wandel bevor. Noch immer machen die ersten Siedler vom „Monte Schlambes“ einen Großteil der Lerchenberger aus. Aber aus den jungen Familien sind meist allein lebende Rentner geworden. „Wir waren damals der Stadtteil mit dem größten Kinderanteil“, erinnert sich Eicheler. „Heute haben wir den höchsten Altersdurchschnitt.“ Weder im nördlichen noch im südlichen Lerchenberg gebe es viele Kinder, bestätigt auch Jugendarbeiter Aris Kaloianis.
„Bald werden auf dem Lerchenberg viele Wohnungen leer stehen“, sagt Eicheler, der selbst über 80 Jahre alt ist, mit einem Augenzwinkern. „Dann werden viele junge Familien einziehen, die gerne hier wohnen möchten.“ Das im Süden geplante Neubaugebiet Nino-Erné-Straße könnte diesen Verjüngungsprozess noch beschleunigen. Auch Kaloianis ist überzeugt, dass der anstehende Generationenwechsel „das große Thema für den Lerchenberg“ werden wird. Er hofft, dass dieser Prozess auch das Zusammenwachsen des dann neuen-alten Lerchenbergs mit der Gustav-Mahler-Siedlung weiter erleichtert.
„Gelungen“, antwortet Ulrich Eicheler voll Überzeugung auf die Frage, wie er das Experiment Lerchenberg angesichts der sozialen und demografischen Probleme des Stadtteils heute beurteilt. Ob er, wenn er wieder vor der Entscheidung stünde, nochmal hierher ziehen würde: „Auf jeden Fall, denn es lebt sich gut auf dem Lerchenberg.“