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Löcher im Sieb – Gedanken zur Entschleunigung

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von Jo Gather, Fotos: Katharina Dubno

„Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit!“ Mit diesen Worten rennt der weiße Hase mit der überdimensionalen Taschenuhr durch das Wunderland. Und so wie diesem Hasen geht es gefühlt allen Menschen um mich herum. Alle haben „gerade eine etwas stressige Phase, aber das wird bestimmt bald wieder anders…“
Wer kennt das nicht? Die Sehnsucht nach einem Tag, an dem beim Aufstehen nicht klar ist, was als nächstes passiert. Oder nach einem Abend mal nicht die To Do-Liste abgearbeitet zu haben. Wenn ich Freunde auf ein Glas Wein treffen möchte, sind prall gefüllte Terminkalender nicht in Einklang zu bringen. Im Laufschritt auf dem Weg zur Bahn schiebe ich mir noch schnell ein belegtes Brötchen rein, zum Kochen und entspannt Essen hat es auch mal wieder nicht gereicht. Bräuchte ich einen dieser Simplify-your-life-Coaches und schwupps wäre mein Zeitkonto wieder voll? Ist das ein gesellschaftliches Phänomen? Ist die Atemlosigkeit ein Kind unserer Zeit? Oder sind mal wieder die Medien schuld?

Schnell, schneller, am schnellsten
Fakt ist, wir leben in einer schnellen Welt, die stetig an Tempo zunimmt. Der amerikanische Psychologieprofessor Robert Levine etwa hat vor einigen Jahren die Lebensgeschwindigkeit verschiedener Länder auf der Welt vermessen in einer „Landkarte der Zeit“: Wie hoch ist die Gehgeschwindigkeit der Fußgänger? Wie lange wartet man auf jemanden, mit dem man zum Mittagessen verabredet ist? Wie korrekt gehen die öffentlichen Uhren? Deutschland war bei diesen Messungen mit Japan und der Schweiz in der Spitzengruppe. Weitere Messwerte rund um die Atemlosigkeit: Laut einer IMAS-Studie dieses Jahres haben drei Viertel der Bevölkerung den Eindruck, dass das Internet und die digitalen Medien die Geschwindigkeit unserer Gesellschaft erhöhen. Mit durchschnittlich 25,7 empfangenen E-Mails pro Tag liegen die Deutschen auch da mal wieder ganz vorn. Und Deutschlands Stressreport 2012 zeigt, dass sich das auch wirtschaftlich auswirkt: 53 Millionen stressbedingte Krankheitstage in der Gesamtbevölkerung gab es im letzten Jahr.

Slow down, everyone. You‘re moving too fast
Das Zauber-Sehnsuchtswort, das in Zusammenhängen dieses verdichteten Zeitgefühls immer wieder fällt, ist „Entschleunigung“. Es wäre so schön, sich mal wieder Zeit zu nehmen für „das Wesentliche“. Beliebte verbale Weggenossen der Entschleunigung sind das „Downsizing“, um zur richtigen „Work-Life-Balance“ zu finden und somit der „Burnout-Falle“ ein Schnippchen zu schlagen. Es gibt erste Hinweise darauf, dass da gerade eine Generation auf den Arbeitsmarkt kommt oder sich seit kurzem befindet, für die Karriere und Geld nicht mehr an erster Stelle kommen. Die sich Gedanken machen über das, was das Leben jenseits vom Lebenslauf-Wettrüsten lebenswert macht. Mit die berühmtesten Vertreter dieser neu entdeckten Langsamkeit sind die Slow Foodler. Für sie ist eine liebevoll zubereitete Mahlzeit, genussvoll und natürlich gemächlich verzehrt im Kreis netter Menschen, das Höchste. Für andere ist es ein Wochenende im Kloster, abgeschnitten vom „Information Overload“ der 24/7-Glitzerwelt des Web 2.0, für die meisten reicht schon ein kurzer Rückzug in die Natur zum Wandern, Joggen usw. Aber gibt es auch Menschen, die so ein entschleunigtes Leben nicht nur punktuell praktizieren? Gibt es wirklich langsame Menschen? Und lässt sich von ihrer Herangehensweise eine Scheibe abschneiden?
Andreas Heldt arbeitet auf dem Wochenmarkt und ist 45 Jahre alt. Holzfällerhemd, Lachfalten, kräftiger Händedruck, helle Augen, die einen beim Sprechen ins Visier nehmen. Selbst auf dem Markt, der ja per se ein Ort der Entschleunigung ist, wo sich die Leute noch Zeit nehmen zum Befühlen von Tomaten, zu einem Pläuschchen in der Sonne, sticht Heldt heraus. Weil er sich Zeit nimmt für den Kunden, den er gerade bedient. Viel Zeit. So viel Zeit, dass die Leute hinter einem in der Schlange mitunter unruhig werden und weiter gehen. Er verkauft auch ein langsam hergestelltes Produkt: Käse von der Hochalm in Tirol, 12 bis 24 Monate gereift, alles per Hand hergestellt.
Bevor er zum entschleunigten Dasein fand, durchlebte Heldt die klassische Workaholic-Laufbahn: angefangen als Banker mit 12-Stunden-Arbeitstagen, bis der Körper streikte. So ist er durch Schwester und Zufall auf dem Markt gelandet. Und schon der erste Tag war eine Offenbarung für ihn. Heldt kürzt seine Arbeit bei der Bank um die Hälfte, arbeitet die andere Hälfte auf dem Markt. Dann steigt er komplett um. Zunächst macht er denselben Fehler wie zuvor, gibt 150 Prozent, ohne Zeit für Familie und Freunde. Dann nochmal: der Körper streikt. Zweieinhalb Monate Klinik. Die Ärzte sagen: Sie haben die Wahl. Entweder Sie machen so weiter, dann haben Sie bald kein Problem mehr mit der Zeit – oder Sie reduzieren radikal. Da hat Heldt begriffen: Es ist ernst. Heute arbeitet er drei Tage die Woche auf dem Markt, daneben verkauft er bei 40 bis 50 Anlässen im Jahr andernorts seinen Käse. Und er arbeitet nicht nur weniger, er arbeitet auch langsamer. Sorgfältiger. Er will sich nie wieder stressen lassen. Am Anfang bekam er viel Gegenwind. Die Leute sagten: Du bist doch verrückt. Er sagt, das liegt daran, weil sie alle drinstecken in dem Hamsterrad und der Logik des Wettbewerbs – schneller, höher, weiter. Jemand, der langsam ist, ist in dieser Logik ein Schlendrian, hält den Betrieb auf, jemand, der ohne krank zu sein weniger arbeitet, ist ein Faulpelz oder dumm, denn er macht sich zu wenig Gedanken um die (abzusichernde) Zukunft.
Aber für Heldt hat sich die Notbremse ausgezahlt. Er ist in den letzten zwei Jahren nicht einmal krank gewesen, er ist glücklich in seinem Leben. Das spürt man auch, wenn man ihm gegenüber sitzt. Und seine Frau lächelt, als sie sagt: „Er hat mich langsam gemacht.“ Das ist als Kompliment zu verstehen. Die Zeit, die er durch die Reduktion seiner Arbeitszeit zur Verfügung hat, steckt Heldt in den Hausbau und Garten, wo er vieles selbst macht. Das Stichwort „mit den Händen“, das fällt immer wieder. Auch Stichwort dieser Generation DIY (Do it yourself): zum Beispiel Sachen selber nähen und stricken, Möbel aus Paletten zusammen zimmern, Marmelade einkochen – das sind überspitzt dargestellt oft Kompensationsstrategien, der digitalen Welt etwas Handfestes gegenüberzustellen.

Einmachgläser und Spitzendeckchen
„Das gute Leben“ als entschleunigtes, dafür intensiver erfahrbares, darum geht es auch in der Zeitschrift „Landlust“. Die Landlust ist der Zeitreiseapparat in die Biedermeierwelt der Spitzendeckchen und Einmachgläser mit Fotostrecken von einem Leben auf dem Land: Vögel im Morgentau, Porträts ausgestorbener Handwerksarten, selbst geflochtene Blumenkränze und aufwendige Rezepte. Die Zeitschrift hat mittlerweile eine höhere Auflage als der Spiegel. Offenbar entspricht sie mit ihrer Themensetzung einem Zeitgeist, bedient eine Sehnsucht. Verena Schmidt (29 Jahre) schreibt über dieses Phänomen ihre Abschlussarbeit in Kulturanthropologie an der Uni Mainz. Sie vergleicht darin die Landlust-Euphorie mit der Lebensreform-Bewegung um 1900. Bereits damals sprach man von einer „Nervosität“, die die stetige Bewegung in den Menschen entfachte – der erste Schritt zum heutigen Burnout. Und ähnlich wie die Slowler heute sahen die Lebensreformler damals die Lösung in einem enttechnisierten Leben mit gutem, sorgfältig zubereitetem Essen und dem Slogan „Zurück zur Natur“. Wobei – schönes Leben auf dem Land, die Verteufelung des Zeiträubers Technik – ganz so einfach ist es nicht. Wer von uns hätte schon Lust, wieder mit einem Waschbrett über den Rhein gebeugt seine Wäsche zu waschen? Technische Errungenschaften waren oft auch ein Zeitsparer. Und doch scheint mit jedem neuen Zeitspar-Gadget die gefühlte Zeitnot größer.

Zeit ist Geld ist Zeit
Es ist eigentlich eine einfache Rechnung. Geld verdienen kostet Zeit. Geld ausgeben kostet Zeit. Die Dinge, die ich erworben habe, zu verwenden kostet Zeit. Ein Zauberwort auf dem Weg in die Entschleunigung lautet daher Verzicht. Heldt dreht die „Zeit ist Geld“-Rechnung um. Er sagt: „Ich brauche nicht viel für ein gutes Leben. Die letzten T-Shirts habe ich vor zwei Jahren gekauft. Ich habe Schuhe, die sind 25 Jahre alt. Ich schaue lieber: Kann ich das Geld an der Stelle sparen? Und damit auch die Zeit, die ich ansonsten aufwenden müsste, um das Geld zu erarbeiten? Es ist eine Frage der Wertigkeiten. Was ist mir mehr wert? Das schicke neue Auto oder die entspannte Zeit mit meiner Frau oder Freunden?“ Und Heldt ist nicht der einzige, der sich Gedanken über das Notwendige macht: Eine wachsende Gruppe von „Minimalisten“ versucht, mit so wenig Gegenständen wie möglich auszukommen und tauscht sich darüber eifrig in Blogs aus (z.B. becomingminimalist.com oder minimalismus-leben.de). Der durchschnittliche Haushalt besteht heutzutage aus über 10.000 Einzelposten. Die zu verwalten, putzen, sortieren, das kostet Zeit. Die Logik der Minimalisten besagt: Die Leute haben zu viele Dinge, zu viele Optionen, aber keine Zeit, diese zu nutzen. Weniger haben heißt, weniger Entscheidungen treffen zu müssen. Verzichten heißt auch: Auf Optionen verzichten, sich trauen zu entschlacken. Nicht drei flache Leben in eine Lebenszeit reinquetschen, sondern eins in die Tiefe leben. „Die Löcher sind die Hauptsache in einem Sieb“: Niemand brachte es treffender auf den Punkt als Ringelnatz in seinem viel zitierten Gedicht. Bald ist wieder Weihnachten, ein paar Tage Zäsur im hektischen Treiben – ein guter Zeitpunkt im Jahr, um über das eigene Verhältnis zu Zeit nachzudenken, darüber was wesentlich ist, welcher Rhythmus mir persönlich gut tut. Und ob Weihnachten ohne vorherigen Konsummarathon nicht auch mal schön sein kann. Mit einem guten Essen und guten Gesprächen und vor allem jeder Menge Zeit.