Das diesjährige „Fenster zum Hof“-Festival im Innenhof des Landesmuseums kommt am Sonntag mit „Wilhelmine“. Die hat in ihren bisherigen Songs viel Mut bewiesen: sie machte gleich in ihrer ersten Single „Meine Liebe“ ihr Coming Out zum Thema, in „Du“ Alkoholsucht im engsten Familienkreis und in „Solange du dich bewegst“ den Schritt zur Selbstliebe, kurzum: sie hat „mit einem Scheinwerfer in alle Richtungen geleuchtet und geschaut, was wirklich hinter den Dingen steckt“, wie sie im Frühjahr zur Veröffentlichung ihrer Debüt-EP „Komm wie du bist“ kommentierte. Ihr Mut wurde belohnt: als die Berliner Künstlerin eben jene Debüt-EP ankündigte, schossen die CD und das Vinyl prompt auf Platz 1 & 2 der „Aufsteiger des Tages“ bei Amazon, sie durfte im „ARD Morgenmagazin“ vor einem Millionenpublikum auftreten und ihre erste eigene Headliner-Tour in 2021 ist schon jetzt größtenteils ausverkauft.
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Die Fans lieben Wilhelmine für ehrliche Texte, mit denen sie sich identifizieren können, zugleich gelingt ihr das Kunststück, einen als Hörer mit einem guten, aufbauenden Gefühl aus ihren Songs zu entlassen – „ihre Mission ist es, liebevolle Botschaften in ihren Songs unterzubringen und diese mit sehr akustischen Beats und organischen Pop-Sounds zusammenzubringen“, wie Diffusmag urteilte, die Wilhelmine zu den „10 besten neuen KünstlerInnen“ 2020 zählen. Wilhelmine, das ist Empowerment in Musikform – und genau da will sie mit ihrer kommenden Musik anknüpfen. Indem sie weiterhin mutig bleibt, „sowohl in meinen Texten als auch mit meiner Musik“.
Einen ersten Eindruck davon vermittelt ihre neue Single „Drip“ – ein Song, bei dem sie gemeinsam mit ihren angestammten Produzenten Jules Kalmbacher und Jens Schneider beschloss, „wirklich komplett auf Reset zu drücken und einfach zu gucken, worauf wir Bock haben.“ Schon der Titel überrascht – man könnte glatt vermuten, Wilhelmine habe deutschen Pop gegen amerikanischen Hip-Hop eingetauscht. Ganz so ist es dann zwar nicht – Wilhelmine singt weiterhin und sie bleibt der deutschen Sprache treu –, doch wer ihre bisherigen Songs kennt, wird sich mit seinen Fäusten definitiv verwundert die Augen reiben – und sie dann sehr schnell begeistert in die Höhe recken. Ein staubtrockener Funk-Bass und peitschende Drums bilden den Unterbau der extrem frischen Produktion, himmlische Geiger und verträumte Melodien den Überbau – und dazwischen singt Wilhelmine mit kecker Ironie von ihrem Leben, in dem nach außen hin scheinbar alles extrem „instagramable“ gut läuft, es in Wahrheit aber auch Tage gibt, an denen einfach alles nur doof ist. Und dann macht es eben „drip-drop und mir läuft ‘ne Träne ins Gesicht“.
„Mein Leben ist perfekt, hab immer gute Laune / Liege an ‘nem See, nein, ich bin niemals traurig … Geld ist kein Problem, denn bei mir läuft’s verdammt gut“ – vor allem die Zeilen der ersten Strophe sind eine direkte Reaktion auf Nachrichten, die Wilhelmine in den sozialen Netzwerken erhielt. „Die sagen dann zum Beispiel: ‚Hey, du bist doch immer auf einem Hausboot, ne? Krass, du liegst schon wieder an einem See. Du hast echt ein perfektes Leben.’ Leute, die nicht so ganz nah dran sind, werten was sie sehen und nehmen das als Richtlinie, wie es mir geht. Nur, weil ich einen vorbeifliegenden Schwarm Vögel in Slow-Motion filme und darunter Musik lege, bedeutet aber nicht, dass es mir gutgeht.“ Es ist der schwierige Spagat, den Künstler heute hinlegen müssen: sie wollen in den sozialen Netzwerken präsent sein, die Leute auf dem Laufenden halten und sich dabei authentisch zeigen, zugleich jedoch ist gerade im Rampenlicht eine Privatsphäre wichtiger denn je – „Ich bin gut darin, nicht immer alles zu zeigen“, singt Wilhelmine dazu im Song vielsagend.
Grundsätzlich jedoch liebt Wilhelmine den direkten Kontakt zu ihren Fans, auch und gerade, weil er ein wechselseitiger ist: „Letztens hat mir nach einem Konzert jemand rückgemeldet, dass ich sehr sensibel oder zerbrechlich wirke. Und das ist eigentlich absolut gar nicht das, was ich bin“, berichtet sie. „Da habe ich mich gefragt: interessant, dass meine Bühnenpräsenz das auch macht. Andere sind bei der gleichen Show und nehmen mich als total stark wahr, und zugleich sagt mir jemand, dass er mich als sensibel wahrnimmt und hofft, dass ich quasi nicht daran zerbreche. Das ist so spannend, weil ich an einem Punkt bin, der viel weiter ist als das. Ich habe aus meinen Schwächen bereits Lieder gemacht und präsentiere sie auf einer Bühne. Das heißt, ich bin eigentlich an einem ganz anderen Punkt: der Darüber-reden-können-Stärke.“
Wilhelmine nutzte die vergangenen Wochen und Monate, in denen für so viele Künstler so wenig ging, so kreativ wie möglich. Sie ergriff trotz Corona jede Chance, live zu spielen – bei Livestreams wie dem vielbeachteten „TV Noir“-Wohnzimmerkonzert, einem Drive-In-Konzert in Wuppertal oder halbwegs regulären Konzerten mit Publikum, u.a. im Tipi am Kanzleramt am 3. Oktober, aber auch bei unkonventionellen Aktionen wie einem Überraschungskonzert auf der Examensfeier eines Fans. „Ja: es ist super herausfordernd und super schwierig. Aber ich versuche, mich irgendwie einfach dem Rhythmus anzupassen und mich nicht als Opfer zu sehen. Ich bin gesund. Ich darf Musik machen. Ich kann weiter kreativ sein“, sagt sie. Und kreativ war sie in der Tat: „Ich habe in der Zeit des Lockdowns rund 15 Lieder geschrieben. Daher haben wir jetzt ausreichend Material, aus dem wir wählen können, was wir als guten nächsten Schritt empfinden.“ Ob es in die Richtung von „Drip“ gehen wird oder ganz anders? Da hält sich Wilhelmine noch bedeckt. Fest steht: sie wird mutig bleiben.