Direkt zum Inhalt wechseln
|

Urban Birding: Ein neues Großstadthobby für Mainz

Es gibt einen Trend namens „Urban birding“. Dahinter verbirgt sich das Beobachten von Stadtvögeln. Dieses „Hobby“ kommt ursprünglich aus Großbritannien. Auch in Mainz kann man „Urban birding“ betreiben, zum Beispiel am Hauptbahnhof.

Ein Abend Ende April. Ungefähr 50 Personen haben sich für den Rundgang „Vogelstimmen in der Abenddämmerung“ zusammengefunden. In gemächlichem Tempo folgen sie Gerardo Unger Lafourcade von der Gesellschaft für Naturschutz und Ornithologie Rheinland-Pfalz (GNOR). Immer wieder bleibt Gerardo stehen, kommentiert die Nester in den umliegenden Bäumen, erklärt den Unterschied zwischen verschiedenen Meisenarten und spielt über einen Bluetooth-Lautsprecher Balz- und Warnrufe ab. Gelegentlich wird er dabei vom Dröhnen eines Busses oder anderen Geräuschen des Straßenverkehrs übertönt. Wir befinden uns nicht in einem Naturschutzgebiet – sondern inmitten der Neustadt, umgeben von einem Meer aus Asphalt, – aber auch von Meisen, Finken und Staren – und vielen anderen Vögeln, groß und klein, die unseren Lebensraum teilen. Für das Beobachten dieser urbanen Artenvielfalt gibt es seit ein paar Jahren einen eigenen Begriff: Urban Birding.

Überquert zweimal pro Jahr die
Sahara: Der Gartenrotschwanz

Großstadttrend Urban Birding
„Erfunden“ wurde Urban Birding vor etwa 15 Jahren von dem britischen Schriftsteller David Lindo. Lindo ist nicht der erste Hobby-Ornithologe, der sich für die unzähligen Vogelarten in seiner Heimatstadt, der 9-Millionen-Metropole London, zu interessieren begann – ihm gebührt allerdings der Verdienst, der großstädtischen Vogelbeobachtung ein einigermaßen hippes Label verpasst zu haben. Seine Bücher tragen romantisch anmutende Titel wie „Tales from Concrete Jungles“, sie handeln von Vogelbegegnungen in Belgrad, Paris und Prag, Taipei, São Paulo und Addis Abeba. Und sie machen Hunderttausenden von Menschen bewusst, dass wir auch im Urbanen von Vögeln umgeben sind. Wie alle Hobbys kann Urban Birding mit unterschiedlich großer Hingabe betrieben werden: Manche Menschen freuen sich schon darüber, den Amselruf in der eigenen Straße richtig zuordnen oder korrekt zwischen Halsband- und Alexandersittichen unterscheiden zu können. Andere ziehen mit Fernglas und Campingstuhl schon im Morgengrauen los, auf der Jagd nach einer seltenen Art. Urban Birding kann auch ein erster Schritt in Richtung Artenschutz, ökologisches Engagement oder sogar Citizen Science sein: Organisationen wie der NABU freuen sich über engagierte Freiwillige, die an verschiedenen Vogelmonitorings teilnehmen. Hochkompatibel ist das Hobby auch mit post-industriellen Buzzwords wie Entschleunigung oder Achtsamkeit: Einfach mal innehalten – und zuhören. Viele Urban Birders beschreiben den Moment, an dem ihnen das bunte Treiben in Hecken und Baumwipfeln plötzlich auffiel, in ähnlichen Tönen wie eine Bewusstseinserweiterung, die seither ihren Alltag reicher macht. Übrigens keine rein subjektive Empfindung: Laut einer Studie, die 2017- 2020 an der KU Eichstätt-Ingolstadt durchgeführt wurde, kann Vogelbeobachtung die psychosoziale Gesundheit steigern, Kontakte über soziale Grenzen hinweg ermöglichen und sogar die Aufmerksamkeitsspanne verbessern. Dass mehrere Menschen in meinem Bekanntenkreis ihre Liebe für Vögel ausgerechnet während der Corona-Pandemie entdeckten, ist vor diesem Hintergrund vielleicht kein Zufall.

Hat nicht jede Stadt: Eingewanderte
Halsbandsittiche

Dinosaurier mit Superkräften
Eine Herausforderung bleibt es, die eigene Vogelbegeisterung jenen zu erklären, die sie nicht teilen. Konfrontiert mit höflichem Nicken und leeren Blicken entwickeln viele Vogelfans eine ganz persönliche (oft ins Lyrische gehende) Erzählung, um ihre Faszination zu rechtfertigen. Ich selbst schildere meinen Mitmenschen die Federtiere oft als kleine, sehr lebendige Dinosaurier – als den letzten übrigen Zweig eines riesigen evolutionären Baumes, der vor 65 Mio. Jahren von einem Meteoriten gefällt wurde. Große gurrende Ringeltauben erinnern mich an gemächliche Pflanzenfresser; Greifvögel an abwägende, gerissene Raubsaurier. Tatsächlich sind alle heutigen Vögel streng genommen Angehörige des „Taxons Theropoda“, dem in der späten Kreidezeit auch Tyrannosaurier und Velociraptoren angehörten. Nicht umsonst sprechen viele Forschende inzwischen penibel vom „Aussterben der Nicht-Vogel- Dinosaurier“ und bebildern die Urzeitgeschöpfe in immer bunterem Gefieder. Mit einem anderen Bild versucht eine Freundin ihre Begeisterung einem vogelskeptischen Umfeld zu vermitteln: Für sie hat jede Vogelart eine absolute Superkraft, welche sie von den meisten anderen Tieren auf diesem Planeten unterscheidet. Mauersegler etwa verbringen neun Monate am Stück in der Luft und berühren in dieser Zeit niemals den Boden – sie schlafen sogar im Fliegen. Krähen können im UV-Bereich sehen – und zwar so gut, dass wir ihnen durch die Aufheller in unseren Waschmitteln wie mit Signalfarbe bestrichen erscheinen (zur Frustration vieler tarnbefleckter Jäger). Zaunkönige wiegen nur halb so viel wie eine Hausmaus, können jedoch die Lautstärke eines Kammerorchesters erreichen. All diese Wundertiere leben in den Gebüschen, Wiesen und Wandnischen unserer Städte – oft nur wenige Meter von unseren Schlafzimmern entfernt.

Am Dom und den Bonifaziustürmen
zu finden: der Wanderfalke

Das schnellste Tier der Welt am Bahnhof
Auch das schnellste Lebewesen auf diesem Planeten hat sich in den letzten Jahrzehnten an die Großstadt angepasst: der Wanderfalke. Bis zu 350 km/h erreichen die Tiere im Sturzflug auf ihre Beute, die sie oft mit einem beeindruckenden Brustschlag ausknocken. Ihre Stärke und Geschwindigkeit führten dazu, dass Wanderfalken seit Jahrtausenden von Menschen gefangen und für die Jagd dressiert wurden. Ein weitaus fieserer Akt unserer Spezies gegenüber dem Raubvogel mit den unergründlich schwarzen Augen war allerdings der großflächige Einsatz des Insektizids DDT ab den 40er Jahren, der zum Aussterben ganzer Falken-Populationen führte. Erst als DDT ein paar Jahrzehnte später in vielen Ländern verboten wurde, konnten sich die Bestände erholen; seit den 1980er Jahren verbreiten sich Wanderfalken zunehmend auch in unseren Städten. In der Landesgeschäftsstelle der Gesellschaft für Naturschutz und Ornithologie (GNOR) in der Osteinstraße sagen Gerardo Unger Lafourcade sowie Geschäftsführer Volker Schönfeld über Wanderfalken: „Der Hauptbahnhof ist der beste Platz, um die Falken zu beobachten. Man muss eigentlich nur in die Luft gucken und die Ruhe bewahren, wenn dir jemand ‚Was bist denn du für ein Hans Guck-in-die Luft?‘ zuruft.“ Gerardo greift nach seinem Smartphone und zeigt ein Foto: ein Wanderfalke auf einer der Außenstreben der Bonifaziustürme direkt unter dem Dach. Wanderfalken nutzen Wolkenkratzer ähnlich wie Berggipfel in der Natur. In fast 100 Meter Höhe legen sie ihre Eier in Nischen und auf Mauersimsen ab. In Mainz kann man sie auch um den Dom herum beobachten.

Hängt sich bei der Nahrungssuche auch
mal kopfüber an Äste: der Stieglitz

Urban Birding für Einsteiger
Den meisten Menschen dürfte der Wanderfalke über ihrem Kopf nicht auffallen, wenn sie zur Arbeit gehen – ebenso wenig wie der Eichelhäher vorm Fenster oder die Amsel in der Hecke. Sie alle aber sind Teil eines Ökosystems, das uns in die Stadt gefolgt ist und dort kühn neuen Lebensraum erobert. Oft dadurch bedingt, dass wir ihre ehemaligen Lebensräume durch Monokulturen, Flurbereinigung und Insektensterben für sie unbewohnbar gemacht haben. Die Erkenntnis, dass Vögel unser Leben besser, wir ihres hingegen oft schlechter machen, dürfte mit der Grund dafür sein, warum sich hunderttausende Menschen in Deutschland in Vereinen wie der GNOR oder dem NABU engagieren. Diese sind auch eine gute Anlaufstelle für Leute mit Urban Birding- Ambitionen: Sie bieten Führungen wie jene in der Neustadt und stellen im Netz eine Fülle an Informationen zur Verfügung. Zu empfehlen ist auch die kostenlose App „NABU Vogelwelt“, ein Vogelführer für das Smartphone. Ansonsten brauchen Menschen, die mit Urban Birding beginnen wollen, nicht viel. „Ich würde sagen, das einzige, was man auf Dauer braucht, ist ein Fernglas“, meint Gerardo zum Abschluss. Aber selbst dies ist für die Vogelbeobachtung im Alltag unnötig. Und ohnehin: „Man sollte am besten auf die Rufe achten. Der größte Teil der Vogelbeobachtung geht über die Ohren.“

Text Andie Rothenhäusler

www.gnor.de
www.nabu-rheinhessen.de
www.ornitho.de